Wilfried Marxer
Schluss
Der Streifzug durch fast 100 Jahre Volksabstimmungen hat gezeigt, dass
33 der bisher 105 Volksabstimmungen auf Landesebene seit 1919 die
Verfassung zum Gegenstand hatten. 18 Vorlagen kamen aufgrund von
Volksinitiativen an die Urne, 15 Vorlagen waren Landtagsbegehren, teil-
weise auch als Gegenvorschlag zu Volksinitiativen. 10 Vorlagen wurden
angenommen, 23 Vorlagen abgelehnt. Teilweise gingen den Vorlagen
oder zwei konkurrierenden Vorlagen heftige Auseinandersetzungen
zwischen den Parteien voraus. Einige scheiterten, weil das Abstim-
mungsverfahren nach dem doppelten Ja noch nicht eingeführt war,
sodass sich zwei Vorlagen konkurrenzierten. Andere wiederum benötig-
ten mehrere Anläufe, bis es zu einer Zustimmung kam, so insbesondere
die Einführung des Frauenstimmrechts und die Erhöhung der Anzahl
Mandate im Landtag. Selbst wenn die 72 anderen Vorlagen, die Gesetze
oder Finanzfragen betrafen, in diesem Beitrag ausgeklammert bleiben,
ist erkennbar, dass die direktdemokratischen Rechte des stimmberech-
tigten Volkes den politischen Prozess stark beeinflussten und beeinflus-
sen. Andererseits ist auch das Sanktionsrecht des Fürsten, welches 2003
und 2012 in Volksabstimmungen bestätigt wurde, ein bedeutender Fak-
tor im politischen System und Entscheidungsprozess Liechtensteins.
Die teils zerfleischenden und hoch emotional ausgetragenen Auseinan-
dersetzungen, sei es zu Wahlrechtsfragen in den 1930er-Jahren und da-
nach, zur Einführung des Frauenstimmrechts in den 1970er- und 1980er-
Jahren oder zur Verfassungsrevision von 2003 und 2012, zeigen, dass
direktdemokratische Verfahren in der Vergangenheit und in der Gegen-
wart explosives Potenzial im sonst eher von Kompromiss und Harmo-
nie geprägten Fürstentum Liechtenstein entwickeln konnten respektive
können.
86 Zu den zwischen 1918 und 1932 anlässlich von Landtagswahlen geführten Wahl-
kämpfen siehe auch den Beitrag von Donat Büchel in diesem Band.
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