Volltext: Was will Liechtenstein sein?

II. EIN GRUPPENRECHT AUF SPRACHE Das «droit à la liberté d’expression» (Art. 10 EMRK) scheint schon sei- nem Wortlaut nach weiter gefasst als das «droit à la liberté d’opinion». In der Praxis der Organe der EMRK jedenfalls erfasst die liberté d’ex- pression auch die Kunstfreiheit. Wenn wir die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung (Art. 8 EMRK), das Recht auf freie Berufswahl, die Garantie materiellen und geistigen Eigentums als die Frucht menschlichen Tuns hinzuzählen sowie das Recht, sich in pri- vaten Vereinigungen zusammenzuschliessen, dann ist ein hohes Mass in- dividueller Rechte auf Kultur und kulturellen Ausdrucks gewährleistet. Erforderlichenfalls sichert das Recht auf einen Übersetzer im Prozess die Waffengleichheit unter den Parteien. Diese Individualrechte erlauben es jeder und jedem, sich in der eigenen Sprache auszudrücken, und sie schützen ihn gegebenenfalls im Gerichtsverfahren. Genügt solche indi- vidualrechtliche Absicherung? Über meine Sprache bin ich immer auch Angehöriger einer Sprachgruppe. Sprache ist fundamental menschlich. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt (Aristoteles’ Politik 1253 a 9). Sprache ist das Intimste. Sprache ist das Gemeinsamste, Offenste und Explizi- teste einer Kultur. Die Sprache ist das erste, womit die Mutter ihr Kind anspricht, in der es als Angesprochenes und Gegenüber zur Person er- wacht, in einer Mutter und Kind umgebenden Welt. Von diesem Aus- gangspunkt her erfolgen alle weiteren Expeditionen, bei denen der Mensch sich den Dingen zuwendet. Noch im Cogito ergo sum, wo der Mensch in einem zweiten oder dritten Schritt bei sich einkehrt und sein Ich sich selbst gegenüberstellt, wird das Anfängliche der Zwiesprache nicht verlassen. In der Sprache der Mutter, der Eltern, drückt sich das In- timste zweier, dreier Menschen aus. Mit Recht schützen die Grundrechte den Bereich des Privat- und Familienlebens und die Korrespondenz als Intimbereich des Menschen. Ein solcher Schutz ist nötig, weil die Spra- che nicht dagegen geschützt ist, ja sich besonders eignet, an die Öffent- lichkeit gezerrt zu werden. Sprache ist aber immer konkret. Sie ist je artspezifisch. Sie hat ihren raum-zeitlich-sinnlichen Leib, ihren eigenen Klang, ihre Logik und ihr Ge dächtnis. «Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend 161 
Verfassung und Grundrecht auf Kultur
	        

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