Partizipation und Abstinenz Wahlbeteiligung als Gradmesser der Demokratie? Auf den ersten Blick kann eine hohe Beteiligungsrate bei Wahlen als Zeichen für eine funktionierende Demokratie mit hoher Systemzufrie denheit gedeutet werden. Dies ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Die Beispiele USA und Schweiz mit einer sehr langen demokratischen Tradition verdeutlichen, dass die Höhe der Stimmbeteiligung keinen linearen Schluss auf die Qualität des demokratischen Systems zulässt. Die Deutungen einer niedrigen oder einer sinkenden Wahlbeteiligung sind in der politikwissenschaftlichen Forschung denn auch sehr unter schiedlich. Roth sieht im Falle der Bundesrepublik Deutschland die sinkende Wahlbeteiligung eher als Normalisierung denn als Krisensymptom an. Er hält fest, dass zwei Drittel derer, die sich nicht für Politik interessie ren, an Wahlen teilnehmen, dass nur ein geringer Teil der Stimmberech tigten politisch engagiert ist und dass über 70 Prozent derer, die keine oder nur schwache Bindungen an die Parteien haben, an Wahlen teilneh men,, und fragt sich in der Folge: «Warum wundert man sich unter die sen Bedingungen, dass es eine sinkende Wahlbeteiligung gibt? Warum wundert man sich nicht, dass es nach wie vor eine relativ hohe Wahlbe teiligung gibt?»
Roth entdeckt auch keinen Zusammenhang zwischen Systemzufriedenheit und niedriger Wahlbeteiligung.404 Rattinger und
Falter/Schumann deuten die Nichtwahl dagegen als Ubergang und Vorstufe zur Wahl systemkritischer Parteien.405 Zu den Bundestagswahlen 1990 schreiben sie: «Ein grosser Teil der in unseren Umfragen erfassten Nichtwähler zeigte in der Tat keine oder nur geringe Anzeichen von Unzufriedenheit. Bei diesem Teil des Elektorats ist die Wahlenthaltung primär durch ein zu geringes politisches Interesse und durch einen deutlichen Rückgang der Wahlbeteiligungsnorm speziell bei den jüngeren Wahlberechtigten verursacht worden. Bei einer quantitativ wie qualitativ bedeutsamen Minderheit der Wahlberechtigten jedoch scheinen Parteiverdrossenheit, Unzufriedenheit mit den führenden Poli tikern oder eine allgemeine politische Entfremdung die Entscheidung zur Nichtwahl bestimmt zu haben. Bei den politisch interessierteren Ange hörigen dieser Gruppe stellt die bewusst ausgeübte Wahlenthaltung un serer Ansicht nach das funktionale Äquivalent zur Protestwahl dar, d. h. m Roth 1992: 59 und 66ff. 405 Roth 1992; Rattinger 1993; Falter/Schumann 1993. 183