Volltext: Nach Amerika!

3abriella Massaro 
\lew York City 
«Aufgewachsen mit zwei Kulturen unterm Dach und einer 
draussen vor der Tür» 
[ch weiss nach Jahren immer noch nicht recht, was ich antworten soll, 
wenn mich Leute fragen, woher ich komme. Gewöhnlich lautet meine 
Antwort, dass mein Vater, Franco, aus Italien und meine Mutter, Rita, 
aus dem Fürstentum Liechtenstein stammen, dass ich grösstenteils in 
Connecticut aufgewachsen sei, aber auch in Lugano daheim bin, wo 
‘ch fünf Jahre lang zur Schule ging. Ich habe etwas geerbt, was meine 
Mutter als «Wanderlust» bezeichnet. Wie meine Mutter «musste» auch 
ich den Ort verlassen, an dem ich aufgewachsen war, denn wie sie sich 
in Liechtenstein gefühlt hatte, fühlte ich mich in New Fairfield, einem 
kleinen Ort im Bundesstaat Connecticut —- eingeengt. 
Ich war anders als die meisten meiner Freunde aufgezogen wor- 
den. Bevor wir, meine jüngere Schwester Leonora und ich, den Kin- 
dergarten besuchten, wurde bei uns zu Hause nur italienisch gespro- 
zhen. Auf Deutsch konnten wir lediglich ein Gute-Nacht-Liedchen und 
ein Nachtgebet. Mutter fand es immer amüsant, wie wir den ganzen 
Tag über italienisch sprachen, aber am Abend im Bett «Jesus Kindlein, 
komm zu mir» beteten. Mutter kannte die Gebete weder auf Italienisch 
noch auf Englisch, deshalb lernten wir auf Deutsch beten. Mit Vater 
sprachen wir auch später immer italienisch, mit Mutter aber zuneh- 
mend mehr englisch. Ich kannte während der Schulzeit nur noch ein 
anderes Mädchen, das zu Hause neben Englisch eine andere Sprache 
verwendete. Andere Familien besuchten in den Ferien Disney World, 
wir fuhren immer zuerst nach Italien und dann nach Liechtenstein. 
Der Gotthardtunnel ist für mich bis zum heutigen Tag ein Symbol 
für den Übergang von einer Kultur in die andere. Mutter wurde immer 
ganz aufgeregt vor Freude, wenn wir durch den Tunnel fuhren, und 
Vater wurde nervös, denn er spricht kein Wort Deutsch. Als er seine 
Schwiegereltern kennenlernte, hatte er ein paar Sätze eingeübt, die er 
dann aber hoffnungslos durcheinanderbrachte. Anstatt «Gute Nacht» 
zu wünschen, sagte er «Gute Nackt», worüber alle lachten. Solches 
Missgeschick liess seine Nervosität bei künftigen Besuchen natürlich 
aicht geringer werden. 
Ausser dem engsten Familienkreis und einem italienischen Onkel 
mit Familie und einem Cousin mit Familie lebt die ganze Verwandt- 
schaft in Europa. Wir wuchsen auf, ohne unsere Grosseltern wirklich 
zu kennen. Ich hatte sie zum ersten Mal gesehen, als ich zweieinhalb 
Jahre alt war, wir besuchten sie aber erst sechs Jahre später wieder. 
Ich erinnere mich noch gut, wie ich als siebenjähriges Mädchen ver- 
suchte, mir die Namen aller Tanten und Onkel und Cousins in Italien 
Massaro-Uhri 
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