tionalismus konfrontiert, wie man ihn in Europa noch kaum kannte.
Die Architekturszene in Chicago wurde nach dem grossen Brand von
1871 bis zur Columbian Exposition 1893 von Ingenieuren und nicht
von Architekten geprägt. Die Ingenieure hatten sich noch im Bürger:
krieg beim Brückenbau mit Stahlkonstruktionen beschäftigt. Einige
Jahre nach dem Sezessionskrieg war die Qualität des Stahls erstmals
so gut, dass die ersten Hochhäuser gebaut werden konnten. Fort-
schritte in der Hydraulik machten Aufzüge möglich. 1889 brachte die
«Chicago Tribune» das Wort skyscraper, also Himmelskratzer, in den
Umlauf, womit sie den Ehrgeiz der Ingenieure und Bevölkerung zum
Ausdruck brachte. Louis Sullivan formulierte 1896 als Grundsatz der
«neuen» Ästhetik den berühmten Satz «Form follows function» und
‘eferierte über die «Loftiness», das Hochragende, im neuen Bautypus,
dem Wolkenkratzer. Alte Form- und Stilelemente schoben diese
Erneuerer beiseite.“
«Mr. Latenser hat die Revolution in den Baumethoden in Amerika
mitverfolgt, er hat miterlebt, wie sich der Wolkenkratzer entwickelte,
und die Veränderungen in Baumaterialen kommen sehen», notierten
1924 die «Bee News» in Omaha.*!
Diese Bemerkung charakterisiert Latensers architektonische Arbeit
vielleicht besser als gewollt. Latenser hatte die neuen Entwicklungen
;atsächlich «nur» beobachtet, beeinflusst haben sie ihn kaum. Seine
zweite Arbeitsstelle in Chicago war, wie erwähnt, bei John A. MacMel-
lo, der zur Hauptsache Lagerhäuser und Getreidesilos errichtete.
Derartige schlicht-funktionale Bauten inspirierten Jahre später die
moderne Architektur und den internationalen Stil. Doch Latenser er-
wähnt seine Erfahrung bei MacMellon mit keinem Wort mehr. Statt-
dessen hebt er hervor, dass die meisten «Entwerfer» und Architekten
in Amerika zu jener Zeit deutscher Abstammung waren - obwohl aus
heutiger Sicht die «grossen» Namen der Architektur im Chicago jener
Tage amerikanischer Herkunft sind: William LeBaron Jenney, Louis
Sullivan, etc.
Dennoch lag John Latenser im Trend. Die Architektur der Columbi-
an Exposition im Jahre 1893 verdrängte den Funktionalismus. Der
hauptverantwortliche Planer dieser Weltausstellung pflegte wiederum
historische Stile. Die vergleichsweise schmuckvollen Stile vergangener
Epochen trafen den Geschmack der Geldgeber und Aussteller besser.
Schliesslich traf das auch auf das übrige Amerika zu. Einerseits plante
man streng pragmatisch und rational (wie etwa die konsequent qua-
dratische Strassenführung in den neuen Städten), andererseits begrüs-
ste man ein buntes Nebeneinander von Architekturformen und -stilen.
Wen wundert’s, dass auch John Latenser keinen eigenen Stil ent:
wickelte, sondern vielmehr mit einer Palette von Stilrichtungen spielte.
Biographische Beiträge