Volltext: Nach Amerika!

Man musste gehen 
«Hier gab es keine Arbeit und kein Geld», sagt Frau Kindle am Telefon. 
«man musste gehen.» Die Bemerkung kommt so spontan und vor- 
wurfsvoll, als erinnere sie sich der Auswanderung nicht als eines Er 
eignisses, das schon bald siebzig Jahre zurückliegt, sondern als fort- 
dauernde Ungerechtigkeit. Die Heimat, das heisst Triesen, Matschels. 
die Heuwiesen, die Alpen und die Berge verlassen zu müssen, bedeu- 
tete, dass das Schicksal ihr «den schweren» Weg zugedacht hatte. 
In eben diesem Matschels ob Triesen begegne ich einer schlanken 
Frau mit kurzen Haaren und aufmerksamen, recht skeptischen Liech 
tensteiner Augen. Ich würde ihr keineswegs die über achtzig Jahre 
geben, die sie schon hinter sich hat. Ihre Ausstrahlung hat nichts von 
der sanften Güte einer Frau, die auf dem Land alt geworden ist. Sie 
wirkt, als stünde sie noch heute Auge in Auge ihrem Schicksal gegenü- 
ber, entschlossen, diesem Antwort auf ihre Fragen abzuzwingen. Der 
Rückblick auf ihr Leben ist illusionslos. Sie meint, die Auswanderung, 
Leben, Arbeit und Eheschliessung in der Fremde seien ihr zugedacht 
gewesen. Sich zu beklagen, würde alles nur verschlimmern. «Man 
muss sich konfrontieren und das Beste daraus machen.» Sie denke 
nicht mehr an das Vergangene. Manchmal bricht Frau Kindle in ein 
schallendes, ansteckendes Lachen aus. «/ ka doch ned aafanga 
räära.» Später sagt sie mir: «Wenn du in Amerika nicht selbständig 
wirst, gehst du unter.» 
Wer weiss, ob sie den Kampf nicht auch gesucht hat. Denn mi 
demselben Scharfblick meint sie: «In Liechtenstein hat man einem 
Mädchen nichts zugetraut.» 
In Cincinnati gibt es keine Berge 
«Ich lebte 37 Jahre lang in Nordamerika. In Cincinnati gibt es keine 
Berge. Ich hatte Heimweh nach den Bergen. Als ich mit 17 Jahren von 
Zürich zurückkam, sollte ich meinen siebenjährigen Neffen, der einge- 
schult werden musste, hinüberbringen. Das Reisegeld wurde vorge: 
streckt. Unsere Eltern waren in die Fabrik gegangen, sie hatten wie 
alle viel Goofa und kä Gäld»>. Damals lebte man hinter dem Mond, 
nein, hinter der Kirche - jedes Jahr ein Kind, ohne Arbeitsentlastung 
für die Frauen. Fabrikler haben weniger gehabt als die Bauern, die 
hatten wenigstens immer zu essen, auch wenn sie darauf warten mus- 
sten, bis die Hennen ihr Ei gelegt hatten. Im Ersten Weltkrieg hat es 
gehapert mit dem Essen.» Die schlimmste Erinnerung an diese Zeit 
der Armut ist ein «Znacht» mit einer Mehlsuppe, die ohne Butter und 
Fett zubereitet wurde. «Ich habe mein ganzes Leben lang nie wieder 
eine Mehlsuppe essen können. Die schweren Jahre haben zu lange 
gedauert, sie waren so prägend, dass man auch später niemals 
Riographische Beiträge
	        

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