sagen, dass wir so reich waren und nun so arm sind - wenn ich daran
denke, das bricht euch das Herz.»"**
Absetzbewegungen
Was hinderte Aline, an der harten, kantigen und unannehmbaren
Wirklichkeit zu zerbrechen? Was erlaubte ihr, die blosse Überlebens-
strategie angesichts der engen gesellschaftlichen und materiellen
Grenzen in einen neuen Lebensentwurf umzuwandeln ?!°
Die Solidarität innerhalb der amerikanischen Verwandtschaft war
begrenzt. Es schien Sache jedes einzelnen, wie er sein Leben meister
te, wenngleich man um die Lebensumstände der anderen Bescheid
wissen wollte.
Auch die Religion wurde für Aline nicht zum Bezugspunkt einer
Neuorientierung. Der Priester traute sie mit Martin erst in Todesgefahr
im Kindbett kirchlich. Aline entwickelte ein distanziertes Verhältnis
zur Kirche. Nachdem sie sieben Jahre in Amerika gewesen war,
aegann sie wieder mit dem Kirchenbesuch. Ihrem Vorsatz, nun öfters
zu gehen, kam sie jedoch nicht nach.”
Es waren ihre Bildung und ihr Bildungsstreben, welche die Basis
für den selbständigen Lebensentwurf in der neuen Heimat darstellten.
Innerhalb der engen gesellschaftlichen Grenzen entwickelte Aline eine
Autonomie, die nicht als «Freiheit von» ungerechten Strukturen, mate
riellen Abhängigkeiten oder emotionalen Familienbindung zu kenn-
zeichnen ist, sondern als «Freiheit zu» selbstverantwortlichem Han-
deln für sich und andere charakterisiert werden kann.
Das Interesse an Bildung und Schulwesen brachte Aline mehrfach
zum Ausdruck. Als im Winter 1892 in Miami (Indiana) die Schule
abbrannte, machte sie sich eine umfangreiche Notiz über den Brand
ınd den entstandenen Schaden: «Am 27. 12 1892 verbrannte die Mia-
mi Schule. Es ist ein grosser Verlust, da diese Schule vor vier Jahren
gebaut wurde und so schön und kostbar war. Alle Bücher sind ver-
brannt. 600 Schüler besuchten die Schule in diesem Haus und wenn
man durchschnittlich fünf Dollar Bücher pro Kind rechnet, beträgt der
Verlust 3000 Dollar. Das Gebäude hätte gerettet werden können und
der Verlust auf 3 bis 400 gemindert werden können, wenn die Wasser-
versorgung in Ordnung gewesen wäre. Es gab jedoch keine Wasser
und die Mannschaft konnte nur der totalen Zerstörung dieser Modell-
schule beiwohnen.»'” Eineinhalb Jahre später hielt sie erfreut im
Tagebuch fest: «Im Mai 94 wurde der Eckstein für die zusätzliche
Schule, eines der schönsten Gebäude Indianas, an der Süd-Ost-Ecke
der Strassen Cass und Hill gelegt.»"”
In ihrer Aufgeschlossenheit notierte sie im Tagebuch das rasche
Wachstum der Stadt Wabash ebenso wie die Nordpolexpedition von
Biographische Beiträge