Die Heirat mit Martin war eine tiefgreifende Umstellung für Aline.
Sie wurde Hausfrau und Mutter, nachdem sie eine Ausbildung absol-
viert, unterrichtet und auch als Kindermädchen gearbeitet hatte. Es
fiel ihr schwer, im neuen Umfeld zurechtzukommen. Die Unterstüt-
zung ihrer Herkunftsfamilie in Frankreich konnte sie nicht wie ihre
Geschwister in Anspruch nehmen. Sie war auf sich allein gestellt. Über
lie häuslichen Strapazen und die Mutterschaft berichtete sie ihrer
Freundin Anna Vogt in gebrochenem Deutsch: «Louis ist in die Sonn-
tagsschule und Hermann liegt auf dem Canape, endlich habe ich ihn
sauber gekriegt. Er hat kleine Hosen an und sagt immer jetzt, dass er
ist ein schöner Bube, nicht mehr Stinkerbub, nicht mehr Schweinekerl.
Sie können nicht denken, was für mich es ist, keine Windeln mehr zu
auswaschen zu haben.»!*
Zu all dem kam, dass Martin sie nicht am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen liess. Voller Zorn, nicht mit ihren Freundinnen gehen zu
können, notierte sie in ihr Tagebuch: «37. Juli. Ich habe eine abscheu-
liche Laune. Wir hätten nach Warsaw mit dem Ausflug der Big Tour
gehen sollen, aber Martin ist derart dagegen, dass wir da bleiben müs-
sen. Die anderen verbringen eine schöne Zeit, können gehen und
haben was sie wollen, aber ich muss auf jegliches Vergnügen und auf
alles verzichten. Hätte ich den Mut, würde ich ... und auch die Kinder.
Ich glaube nicht, dass ich noch lange ein solches Leben ertragen kann.
(ch bin so erschöpft !»!*%
Das Leben am Rand des Existenzminimums verursachte schwere
Depressionen. Vier Jahre nach ihrer Ankunft berichtete Aline über
ihre Sorgen nach Frankreich: «Wir leben, aber man muss aufpassen,
mit dem Geld auszukommen. Wenn ich denke, mit wie wenig wir
durchkommen müssen, dann wünsche ich, dass die Erde sich öffne
und uns verschlinge.»"*
Aline äusserte mehrfach ihre Selbstmordabsichten angesichts ihrer
prekären finanziellen Situation. Die Zukunft schien ihr gänzlich ver-
baut, als Martin nicht in der Brauerei arbeitete und die drohende
Arbeitslosigkeit noch spürbarer war. «Die ganze Nacht habe ich über
den Reim nachgedacht, den ich wie folgt auf meinem Grab eingravie-
ren möchte: «Wenn man alles verloren und keine Hoffnung mehr hat,
ist das Leben ein Schandfleck und der Tod ein Glück>.»"”
Ihr Leben in Armut beurteilte Aline in Hinblick auf das zeitgenössi-
sche gesellschaftliche Gefälle zwischen Arm und Reich: «Ich bin
manchmal schrecklich entmutigt, kein Geld und Schulden, warum
muss alles so schlecht verteilt sein. Die einen haben soviel, dass sie
sozusagen nicht wissen, was damit anzufangen. Die anderen schuften
und schuften und haben nichts.»'”* Die Ungerechtigkeiten des wirt
schaftlichen und sozialen Systems waren ein steter Anstoss für Alines
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