33 Der Raub der Helena
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Pierre Courteys (ca. 1520-1591)
Der Raub der Helena
‘Limoges, 2. Hälfte 16. Jh.)
Email auf Kupfer; 43x54 cm
Bezeichnet in Gold unten rechts:
P.COURTEYS
Inv. Nr. S 221
Erworben: vermutlich zwischen
1738 und 1740 durch Fürst
Joseph Wenzel
Helena, die schönste Frau der Welt, die Aphrodite dem Paris verspro-
chen hatte, war eine Tochter des Zeus und der Leda, also von göttlicher Ab-
stammung. Da der höchste Gott sich Leda in Gestalt eines Schwanes genä-
hert hatte und Helena aus einem Ei geboren wurde, war ihre Haut
zauberhaft zart und hell. Als sie ins heiratsfähige Alter kam, warben alle Prin-
zen Griechenlands um ihre Hand. Zum Gemahl nahm sie Menelaos, den
König von Sparta, Bruder des Königs Agamemnon von Mykene, der das
griechische Heer gegen Troja befehligen sollte.
Paris hatte zwar Vertrauen in das Versprechen Aphrodites, gedachte je-
doch, den Augenblick der Begegnung zwischen ihm und Helena möglichst
rasch herbeizuführen. So begab er sich mit dem Schiff nach Sparta, wo er
von Menelaos gastfreundlich und völlig arglos empfangen wurde. Eine kurz-
fristige, durch familiäre Angelegenheiten bedingte Reise des Königs nach
Kreta nutzte Paris, mit Helena zu fliehen und Menelaos somit seiner Gattin
zu berauben. Von einem gewalttätigen Überfall des Trojaners auf Helena ist
bei den antiken Autoren? allerdings keine Rede, auch nicht bei Homer. Im
Gegenteil. Die junge Frau fand durchaus Gefallen an dem schönen Prinzen,
der ihr seine Gefühle mit fast schon kompromittierender Offenheit zeigte.
Eros, so war es Aphrodites Wille, mühte sich redlich, nichts fehl gehen zu las-
sen, und in der Tat folgte Helena dem Paris nicht nur freiwillig nach Troja,
sondern gab sich ihm, kaum daß sie den ersten Hafen auf der Insel Krana&
anliefen, in Liebe hin.
Courteys’ Darstellung basiert offensichtlich auf einer anderen Quelle,
nach welcher Helena tatsächlich gewaltsam entführt wurde. Dares Phrygius,
dessen De Excidio Troiae Historia vor allem im Europa des Mittelalters be-
kannter war als die Schriften Homers,* berichtet, daß Paris als Kommandant
der königlichen trojanischen Flotte zur griechischen Insel Kythera segelte,
wohin sich Helena aus Sparta begeben hatte, um in einem Tempel dem Apol-
lon und der Artemis zu huldigen. Die Trojaner ergriffen die junge Frau und
raubten mit ihr, allen militärischen Widerständen einheimischer Soldaten
zum Trotz, zugleich auch den Tempelschatz.
Die räuberische Ergreifung Helenas ereignet sich bei Courteys an der
Küste eines gebirgigen, von Festungsanlagen und einer Ruine beherrschten
Landstriches, der wohl als Kythera zu identifizieren ist. Trojanische Segel-
schiffe und Boote liegen wartend vor Anker. Zahlreiche Krieger zu Fuß und
zu Pferde sind in heftige Kämpfe verwickelt. Im Vordergrund der Szene, auf
einer kleinen Landzunge, die von leicht aufschiumenden Wellen umspült
wird, entreißt ein Trojaner die hilflose Helena den Händen eines Gegners,
um sie in ein bemanntes Ruderboot zu ziehen. Unmittelbar dahinter sieht
man Männer mit dem Verladen des geraubten Tempelschatzes beschäftigt.
Die Frage, ob Helena freiwillig mit Paris nach Troja ging oder von ihm
dorthin entführt wurde, fand, je nach literarischer Quelle, eine unterschied-
liche Beantwortung. Wenngleich es für die vorliegende Darstellung nicht
von Belang ist, sei hier kurz noch eine dritte Variante erwähnt, die uns zeigt,
welche geheimnisvollen Vorstellungen sich um die Gestalt der schönsten
Frau der Welt rankten.