Atem. Das Befinden der Opfer, für welches Ovid sich dichterisch sensibel
zeigt, kümmerte ihn wenig. Auch Europa gab sich Jupiter nicht in Liebe hin.
Sie wurde von ihm vergewaltigt. Hinter göttlichem Brauch aber verbirgt sich
häufig menschliche Geschichte, und so ist überliefert, daß es kretische Hel-
lenen waren, die Europa raubten. Johannes Malalas (6. Jh. n. Chr.), Byzanti-
ner und Verfasser einer Weltchronik, berichtet: «Tauros (Stier), König von
Kreta, überfiel Tyros während der Abwesenheit Agenors und seiner Söhne.
Er eroberte die Stadt am gleichen Abend und machte viele Gefangene, dar-
unter Europa. Dieses Ereignisses wird zu Tyros in dem jährlichen «Unglück-
lichen Abend gedacht.» Dem Raub der Europa aber war schon ein ande-
rer vorausgegangen — jener der Io (siehe Nr. 27), doch waren es hier die
Phönizier, die «Wölfe in Händlergestalt», welche die junge Frau aus Grie-
chenland entführten. «Wie ein Fanal von den Bergen entzündete dies die
Flamme des Hasses zwischen den Kontinenten. Seitdem liegen Europa und
Asien miteinander im Kampf ... Dieser Raub ist es, auf den dann die Kre-
ter antworteten, als sie in Phönizien die Tochter des Königs, Europa, entführ-
ten.»® Immer wieder schlug das Pendel, wie Calasso schreibt, zwischen Asien
und Europa hin und her, und mit jedem Schlag «wechselte eine Frau von ei-
nem Ufer zum anderen über». Schließlich wurde Helena geraubt (siehe Nr.
33), die schönste Frau der Welt, um welche die Griechen zehn Jahre Krieg
mit den Trojanern führten.
Jupiter wechselte, um sich mit Europa zu vereinen, noch einmal seine
Gestalt. Er wurde zum Adler und zeugte mit ihr unter einer immergrünen
Platane drei Söhne: Minos, Rhadamanthvys und Sarpedon.
26 Die Entführung der Europa
Auch Hendrick van Balen setzte den literarischen Stoff der Entfüh-
rung Europas, wie so viele andere Künstler, in eine bildnerische Darstellung
um.! Als festliches Ereignis schildert er die Begegnung zwischen der phöni-
zischen Königstochter und Jupiter, der in Gestalt eines weißen Stieres er-
scheint. Die Bäume eines Waldes umgrenzen die Szene und geben zugleich
den Blick zum nahegelegenen Meer frei. Auf den vorgelagerten Wiesen grast
das Vieh des Königs Agenor, welches Merkur dorthin führte, damit sich der
Göttervater als Stier zu den Stieren geselle, durch sein schönes Äußeres aber
gleichwohl die Aufmerksamkeit Europas auf sich ziehe. Ein stattliches Ge-
folge junger Frauen, die in feine und buntfarbige Gewänder gekleidet sind,
umgibt die vom höchsten Gott auserwählte Prinzessin, welche ein blaues
Kleid und einen goldgelben, großgemusterten Mantel trägt. Sie beherrscht
die Mitte des Schauplatzes. Noch aber verrät ihre Haltung Unschlüssigkeit.
Während sie mit der Linken zum Maul des Stieres greift, wendet sie den
Blick nach rechts, zu jenen Gefährtinnen, die, wie ihr Kopfputz vermuten
Jäßt, einen höheren Rang im Gefolge der Königstochter einnehmen und da-
her ihr Vertrauen genießen. Von ihnen erwartet Europa wohl Zuspruch, sich
dem prachtvollen Stier, der schon mit Blumen üppig umkränzt ist, sorglos
nähern zu dürfen. Die schönen Frauen hegen keinen Zweifel. Eine von ih-
26
Hendrick van Balen (1575-1632)
Die Entführung der Europa
Aolz; 65x 112,5 cm
Bezeichnet unten links:
H.V. BALEN
Inv. Nr. G 423
Erworben: 1787 durch Fürst Alois 1