Volltext: "Götter wandelten einst..."

hen, sogar die Opferfeiern und heiligen Bräuche der Göttin Venus vernach- 
lässigten, ja schließlich ihre Tempel verfallen ließen. Dies erfüllte die Liebes- 
zöttin dermaßen mit Zorn, daß sie nicht etwa die treulosen Menschen, son- 
dern Psyche selbst, die freilich nichts zu jenem Umstand beigetragen hatte, 
mit Demütigung strafen wollte. In Amor, ihrem Sohn, welchen der Dichter 
als «Spitzbuben» bezeichnet, «der mit seinem schlechten Benehmen die öf- 
“entliche Zucht mißachtet»,? glaubte Venus das richtige Werkzeug ihrer 
Strafgelüste zu haben. Ihn nun beauftragte sie folglich, dafür zu sorgen, daß 
Psyche sich «in feurigster Liebe zum niedrigsten Menschen verzehre, den das 
Schicksal zugleich an Ehre, Vermögen, ja selbst an der Gesundheit gestraft 
hat und der so tief steht, daß er auf dem ganzen Erdkreis keinen findet, der 
ihm an Erbärmlichkeit gleichkäme».* Amors Sinn für Schönheit aber ver- 
sitelte den Plan der Göttin, denn der «Spitzbub» hatte sich längst in das sterb- 
üiche Mädchen verliebt und entführte es in seinen herrlichen Palast, wo eine 
zestaltlose Stimme ihm hilfreich zu Diensten war. Schon in der ersten Nacht, 
ei völliger Finsternis, erschien der junge Gott und machte Psyche zu sei- 
1er Geliebten. Und wenn diese auch nicht sah, wer ihr Liebhaber war, so 
;pürte sie doch seinen Leib und hörte seine Stimme. Bald schon aber ver- 
nochte Amors allein auf die Nacht beschränkte Wiederkehr die Einsamkeit 
Psyches, die sie während des Tages empfand, nicht aufzuwiegen, und so bat 
sie darum, ihre Schwestern empfangen zu dürfen. Diese schürten jedoch, 
von Neid ob all der Pracht des Palastes durchtränkt, den heftigsten Zweifel 
im Herzen des Mädchens gegen dessen unsichtbaren Liebhaber und be- 
haupteten sogar, er sei ein gefräßiges Ungeheuer. Die gutgläubige Psyche be 
;tieg nun, schwankend zwischen Angst und Wagemut, die nächtliche Bett- 
;tatt mit Lampe und Messer, um, sobald nur der Geliebte schliefe, ihm den 
Kopf vom Hals zu trennen. Als aber «das hingehaltene Licht die Geheim- 
aisse des Lagers erhellt, erblickt sie das sanfteste und liebste Ungeheuer un- 
‚er allen wilden Tieren, ihn selbst, Cupido, den prächtigen Gott, prächtig da- 
ijegend, bei dessen Anblick auch das Licht der Lampe vor Vergnügen heller 
zu strahlen anfıng und das Messer seine schändliche Schärfe bereute».* Nicht 
satt sehen konnte Psyche sich an dem schönen Jüngling, und als sie dessen 
Pfeile im Köcher neben dem Bett erblickte und sich, neugierig mit dem 
Jaumen ihre Spitzen prüfend, daran verletzte, da war sie von leidenschaftli- 
;her Liebe zu Amor erfüllt und drückte ihm «lechzend-schmachtende 
Züsse» auf die Lippen. In ihrem Überschwang vergoß sie jedoch einen Trop- 
fen siedend heißen Öls der Lampe auf seine Schulter, und der Gott, von 
Schmerz erwacht, sah sich entdeckt, ja verraten und floh mit den Worten: 
«Ich, du arglos-dumme Psyche, habe die Gebote meiner Mutter Venus nicht 
beachtet, die mir aufgetragen hatte, dich durch Leidenschaft zum ärmsten 
ınd verworfensten Menschen zu fesseln und niedrigster Ehe preiszugeben, 
ınd bin lieber selber als Liebhaber zu dir geflogen. Aber dies habe ich aus 
Leichtsinn getan, ich weiß, und ich, der hochberühmte Bogenschütze, habe 
nich selbst mit meinem eigenen Geschoß durchbohrt und dich zu meiner 
Gattin gemacht...» Für Amor und Psyche begann nun eine Zeit schlimmer 
Entsagungen und Strafen. Sie hatten unter dem noch gesteigerten Zorn der 
Venus, der alles zugetragen wurde und die sich jetzt bitter rächte, heftigst zu 
leiden — Psyche verständlicherweise mehr als Amor —, doch am schlimmsten
	        

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