Abend Sorge hatte, der Sonnengott könnte auf seiner sinkenden Bahn
den Halt verlieren und «äh in die Tiefe» stürzen, die ihn bei Nacht dann,
nach der Mühe und Hitze des Tages, in der Kühle ihres nassen Elementes
aufnahm? Homer ist der erste, der Tethys erwähnt — als Gattin des Okeanos,
jenes Stromes, der kreisrund die Erde umfloß und in dem alle Götter und
Lebewesen ihren Ursprung hatten. Er nennt sie auch als Behüterin und Er-
zieherin der Hera (röm. Juno), der Gemahlin des Zeus.* Bei Hesiod ist sie
sine Titanin, ein Kind der Gäa und des Uranos, der Erde und des Himmels.
Als Meeresgottheit war sie die Mutter aller Flüsse und der Okeaninen.*
Schauen wir auf Robert Le Lorrains Bronzebüsten, so unterliegt der
Verbindung von Tethys und Apollon zweifellos ein erotischer Grundton, der
schon in Ovids Text anzuklingen scheint. Die Göttin hat den Kopf, dessen
in der Mitte gescheiteltes Haar durch Perlschnüre, Bänder und ein Diadem
schön geschmückt ist, leicht nach links geneigt und erwartet mit dem Aus-
druck der Sehnsucht und der Hingabe, ja mit wohl zart formulierten Wor-
ten, die ihrem leicht geöffneten Mund entspringen, den Gott der Sonne, um
ihn nach vollendetem Tagewerk in ihrem Gemach zu erquicken. Doch mit
frischem, offenem Blick und durchaus nicht erschöpft schaut der wild ge-
'ockte Apollon ihr entgegen, und es ist zu vermuten, daß auch er für Tethys
das Beste zu geben bereit ist, bevor der kommende Morgen den Aufbruch
vom gemeinsamen nächtlichen Lager erzwingt.
Die in Paris geschaffenen Büsten entstanden kurz vor oder nach dem
Tode Ludwigs XIV. (1638-1715), der sich mit der Gestalt des Apollon iden-
tifizierte und als «Sonnenkönig» verehren ließ. Schon 1664 nahm der
Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) zwecks Huldigung des französi-
schen Königs literarisch Bezug auf die oben zitierten Verse Ovids — zeitlich
parallel zu der im Versailler Schloßpark errichteten Tethysgrotte, für die der
Bildhauer Francois Girardon (1628-1715) eine Apollon-Gruppe schuf.* Le
Lorrain war Girardons Schüler und insofern mit der politisch-allegorischen
Programmatik, die dem antiken Thema hinsichtlich der Person des «Sonnen-
königs» zugrunde gelegt worden war, sehr wohl vertraut. So schrieb der
Kunstschriftsteller Andre Felibien (1619-1695) im Jahre 1672 über Girardons
Gruppe: «...denn ebenso wie die Dichter vorgaben...,daß die Sonne, nach:
dem sie ihren Lauf vollendet hat, geht, um sich im Palast der Tethys auszuru-
hen und sich von den Mühen des Tages zu erholen, hat man geglaubt, daß
diese erfindungsreiche Fiktion auch als passendes Thema für eine Grotte in
Versailles dienen könne, wo der König von Zeit zu Zeit hingeht, um etwas
Erholung zu finden und sich von seinen großen und bedeutenden Anstren-
zungen zu entspannen, ohne daß diese Rast ihn hindern würde, alsbald wie-
der zur Arbeit zurückzukehren mit der gleichen Hitze wie die Sonne, die
beim Verlassen des Wassers, wo sie geruht hat, von neuem beginnt, die Welt
zu erleuchten.»* Künstlerisch vermochte Le Lorrain das «barocke Pathos»
des Lehrers mit seinen beiden Büsten «bereits hinter sich zu lassen».* Sehr
viel näher stehen Tethys und Apollon die um 1700 von Jean Juvenet für das
Versailler Chäteau de Trianon de Marbre gemalten Figuren, die der gleichen
Erzählung folgen, aber «nicht als die Weltgeschicke lenkende, mächtige Ge-
stalten, sondern als lächelnde, besonnene und ausgeglichene Personen»’ er-
scheinen