Volltext: "Götter wandelten einst..."

Musenroß, welches dem von Perseus abgeschlagenen Haupt der Medusa 
entsprang. Am rechten Rand der Tafel erscheint, mit dem Rücken zur Szene, 
Dan, der Walddämon und Schutzgott der Hirten, der Jäger und des Viehs. Er 
spielt auf einer Rohrflöte, der von ihm selbst erfundenen Syrinx, die er aus 
jenem Schilfrohr schnitt, in welches sich die von ihm begehrte Nymphe 
gleichen Namens verwandelt hatte, um sich seiner Umarmung zu entziehen 
‘siehe Nr. 58). 
Wie Pausanias um 180 n. Chr. berichtet,” war die Zahl der Musen ur- 
sprünglich auf drei begrenzt. Hesiod hingegen führt bereits die oben na- 
mentlich erwähnten neun Musen auf, die Zeus in neun langen Nächten mit 
der Titanin Mnemosyne, der «Erinnerung», gezeugt hatte. Ihnen lag, so 
schreibt Hesiod, der Gesang am Herzen, und sie hatten einen sorgenfreien 
Sinn. Ihre Zuständigkeit für die verschiedenen Künste und Wissenschaften 
war keineswegs von Anfang an sicher geregelt, und auch in späterer Zeit gab 
es wohl immer wieder veränderliche Zuordnungen. Von allen Musen aber 
erachtete Hesiod Kalliope als die «vortrefflichste», denn sie begleitete die 
«ehrwürdigen Könige» mit heroischem Gesang, der «vornehmsten Art der 
Dichtung» (Kerenyi). Hesiod ruft gleich zu Beginn seiner Theogonie die 
Musen an, die ihn, den Dichter, den schönen Gesang lehrten, «als er die 
Schafe weidete unter dem gotterfüllten Helikon», jenem Berg im griecht- 
schen Böotien, auf welchem die Musen ihren Sitz hatten. Einst sangen sie 
selbst so schön, daß der Helikon vor Entzücken in den Himmel wuchs, bis 
Pegasus ihn, auf Geheiß seines Vaters Poseidon, mit den Hufen schlug und 
so die Quelle Hippokrene erzeugte,* für welche die Musen das geflügelte 
Pferd in Ehren hielten. Doch nicht auf dem Helikon, sondern auf dem Par- 
naß zeigt uns der Maler die Göttinnen um Apollon versammelt, um gemein- 
sam mit ihm zu musizieren. Waren die Musen, wie Roberto Calasso 
schreibt,* einst wilde und ungestüme, nymphenhafte Mädchen, die Apollon 
vom Helikon auf den gegenüberliegenden Parnaß holte, um sıe dort zu er- 
ziehen und zu lenken? War es der Gott der Weissagekunst und der Musik, 
«der sie mit Gaben vertraut machte, die diesen Haufen wilder Mädchen zu 
Musen werden ließ, mithin zu den Frauen, die sich des Geistes bemächtig- 
cen, wobei eine jede die Regeln für eine bestimmte Kunst aufstellte»? In teils 
heftig flatternden Gewändern läßt sie der Maler vor uns aufspielen, und wir 
mögen darin einen Hinweis auf die äußere und innere Bewegtheit, Ja Wild 
heit erkennen, die zum Wesen dieser Göttinnen gehörte. 
Als Apollon mit Marsyas, einem phrygischen Satyr, im Wettstreit lag, 
wer von beiden besser musiziere — Apollon auf der Leier oder Marsyas auf 
der Flöte —, da entschieden die Musen, die zu Schiedsrichterinnen ernannt 
worden waren, zugunsten Apollons, der sich an Marsyas rächte und ihm, ge- 
mäß der vorausgegangenen Verabredung, daß der Sieger mit dem Unterle 
genen nach Belieben verfahren könne, bei lebendigem Leib die Haut abzie- 
hen ließ. Und auch mit Pan, der am rechten Rand der Bildtafel erscheint, 
stritt Apollon um die musikalische Vorherrschaft, die ihm durch Tmolos, den 
lydischen König, zugesprochen wurde, ohne daß der Hirtengott dabei das 
grausame_Schicksal des Marsyas erleiden mußte. Wenn Pan sich mit seiner 
Syrinx, der Rohrflöte, regelrecht aus dem hier besprochenen Bild heraus- 
zuschleichen scheint, so deshalb, weil das Urteil im Sinne Apollons bereits
	        

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