3 Meleager und Atalante
Als rachsüchtig und ungnädig lernen wir Diana auch in der Ge-
schichte von Meleager und Atalante kennen, die uns ausschnitthaft bei Jacob
Jordaens begegnet. Der Vater des Meleager, König Oeneus von Kalydon,
brachte als Dank für ein gesegnetes Jahr den Göttern seine Opfer dar. Nur
Diana vergaß er, die gleichfalls auf Ehrung bedacht war. Sofort sann sie auf
Bestrafung der Nachlässigkeit und schickte einen gewaltigen Eber über das
kalydonische Land, um die Felder des Oeneus zu vernichten. Der König bat
die tapfersten Kämpfer Griechenlands um Beistand in der Not, und zahlrei-
che Männer schickten sich an, ihm selbstlos zu helfen — unter ihnen Kastor
und Pollux von Sparta, Theseus von Athen, Jason von Jolkos, Admetos von
Pherai, Nestor von Pylos, Telamon von Salamis und, neben anderen mehr,
Meleager, der Sohn des Oeneus. Ein panhellenisches Aufgebot sollte dem
zerstörerischen Tier zu Leibe rücken, Unter die männlichen Helden mischte
sich zuletzt auch eine Frau, die «keusche und schnellfüßige» Atalante, Toch-
ter des Jasos und der Klymene. Sie war eine exzellente Jägerin, denn sie hatte
ihre Kindheit und Jugend bei Jägern verbracht, da ihr Vater, enttäuscht über
die Geburt einer Tochter, sie in der Wildnis ausgesetzt und ihrem Schicksal
überlassen hatte. König Oeneus akzeptierte Atalante, ganz im Unterschied
zu einigen Helden, die in der Teilnahme einer Frau keinen Vorteil erkennen
wollten. Meleager begrüßte ihre Anwesenheit, denn er fand Atalante schön
und verliebte sich in sie. Der Kampf gegen den Eber, dessen Fell und Hauer
der König demjenigen versprochen hatte, der das Tier töten würde, erwies
sich als mühsam und gefährlich. Mehrere Männer kamen zu Tode, bevor es
Atalante gelang, das wild rasende Geschöpf der Diana mit einem Pfeil hin-
ter dem Ohr zu verletzen. Noch weitere Wunden erlitt der Eber, bis Melea-
ger ihm schließlich den Speer mit tödlicher Wirkung tief in die Brust bohrte.
Er häutete ihn und überreichte Atalante das Fell samt Kopf, denn mit ihr
wollte der verliebte Königssohn Ruhm und Trophäe teilen, da sie zuerst das
Tier verletzt und somit seine Überwältigung ermöglicht hatte. Dies aber
provozierte Plexippus und Toxeus, die beiden Onkel des Meleager und Brü-
der seiner Mutter Althaea, zu vehementem Widerspruch. Sie verlangten von
Atalante das Erworbene mit den Worten zurück: «Lege die uns gebühren-
den Ehrenzeichen weg und raube sie uns nicht, Weib! Laß dich vom Ver-
trauen auf deine Schönheit nicht verführen, nimm dich in acht, dein groß-
zügiger Spender, der vor Liebe den Verstand verloren hat, wird dir nichts
nützen!» «Und sie raubten ihr die Gabe und ihm, Meleager, das Recht des
Gebens.» Jordaens konzentriert sich in seinem Bild genau auf diesen Augen-
blick, da die Männer sich widerrechtlich der Beute bemächtigen wollen, die
Atalante in ihren Händen hält. Ihr Blick ist auf Meleager gerichtet, der un-
vermittelt zum Schwert greift und einer kurzen Drohung schon rasch die
Tat folgen lassen wird. Entschlossen streckt er seine beiden Onkel mit der
Waffe nieder.
Der Maler beschränkte die Szene ursprünglich auf eine kleine Tafel im
Zentrum des Gemäldes.? Dicht gedrängt stehen die in das Geschehen
verwickelten Personen beieinander, gestikulierend und von ungezügelter
Erregung beherrscht. Zahlreiche Hände greifen gierig nach dem Kopf des
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Jacob Jordaens (1593-1678)
Meleager und Atalante
‘ca. 1620/60)
Holz; 72,7x 98 cm
inv. Nr. G 108
Erworben: 1981 durch Fürst
Sranz Josef IL.