dem, was sie sieht, und Amor, der seinen Köcher bei sich hat, schaut auffor-
dernd den Betrachter des Bildes an, der seine Augen, dem Maler gleich, auf
Venus richten soll. Hier steigert Goltzius das Thema des Gesichtssinnes zu
einer Allegorie der Malerei, der hóchsten Gattung der Kunst, die auf Welt-
und Selbsterkenntnis sowie auf Schónheit und Liebe basiert. Man darf ver-
muten, daD dieser Gedanke bereits den Venusdarstellungen Tizians, Verone-
ses und auch Tintorettos (1518-1594) zugrunde lag, den Goltzius ikonogra-
phisch allerdings ungleich aufwendiger und zugleich mit moralisierendem
Unterton, wie auch die lateinische Bildunterschrift beweist, ausschmückte.
Der Kupferstich trágt die Jahreszahl 1616. Goltzius' Bildidee entstand
jedoch schon kurz nach 1600, so daß Rubens sie gekannt haben könnte, be-
vor er seine Venus vor dem Spiegel malte. Sicher waren ihm auch die Werke
der Venezianer gegenwärtig, zu denen sein eigenes Gemälde die größere
Nähe zeigt. Ebenso kannte Rubens die Bildtraditionen der Prudentia- und
Gesichtssinndarstellungen. Seine Venus nimmt diese Überlieferungen in sich
auf, und auch sie präsentiert sich letztlich als Sinnbild der Malerei, bezau-
bernd schón und mit verführerischer Anmut den Betrachter im Spiegel fi-
xierend. Rubens macht uns verliebt in sie, als Góttin der Liebe wie auch als
Gegenstand der Malerei, und damit in die Malerei selbst, die diesen Gegen-
stand darstellt — im greifbar stofllich gedachten Sinne sowie als «mmate-
rielle» Erscheinung, als Bild der Schönheit im Bilde, reflektiert durch das
Medium des Spiegels, mit welchem der schalkhafte Amor erst eigentlich den
Blick der Venus mit dem unsrigen zusammenführt. Der Maler zeigt uns, daß
das von Schönheit, Liebe und Erkenntnis gelenkte Auge, dem seine Kunst
huldigt, das feinste und zugleich hellste, das erhellendste Sinnesorgan ist.
Doch eignet der Göttin der Liebe auch eine dunkle Seite. Goltzius
deutet dies eher beiläufig und gleichwohl unübersehbar durch die Katze im
Bildvordergrund an, deren symbolischer Gehalt generell ambivalent ist. Die
negative Auslegung bringt sie mit den «Mächten der Finsternis» in Verbin-
dung sowie mit Lüsternheit und Grausamkeit. Bei den Griechen trug Venus
(eigentlich Aphrodite) gelegentlich Beinamen wie Melaina und Melainis,
«die Schwarze», oder Skotia, «die Dunkle». ° Es sei dahingestellt, ob Rubens’
dunkelhäutige Dienerin eine Anspielung auf diesen Aspekt der Venus ent-
hält. Ihr Äußeres unterstreicht gewiß die verführerische Aura der Liebesgöt-
tin, doch wohl kaum im negativen Sinne. Das Interesse an dunkler Haut-
farbe ist darüber hinaus gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17.
Jahrhunderts keine Seltenheit. Sogar Venus selbst wurde, im Typus der soge-
nannten Negervenus, dunkelhäutig dargestellt."" Auch sie betrachtet sich in ei-
nem Spiegel. Daß Rubens um die gegensätzlichen Eigenschaften der Göt-
tin wußte, mag aber vielleicht in einem ganz anderen Detail zum Ausdruck
kommen — so trägt Venus am linken Ohr eine helle Perle, am rechten hin-
gegen, wie uns nur der Spiegel verrät, eine dunkle.