herrscht Apollon ... Es gibt keinen vollständigen Sieg, kein Sieg reicht aus,
um das gesamte Jahr abzudecken. Weder Apollon noch Dionysos kann stän-
dig regieren, keiner von beiden kommt ohne den anderen aus, keiner von
beiden kommt um eine bestimmte Zeit der Abwesenheit herum.» Was aber
den Anspruch des Weingottes auf das Apollon-Heiligtum in Delphi recht-
fertigte, war die aus seiner Besessenheit resultierende Fähigkeit zur Erkennt
nis und zur Weissagung. «Auch Seher ist Dionysos, denn der Bacchuswahn,
das trunkene Rasen, trägt in sich die Seherkunst. Denn wessen Glieder ganz
erfüllt des Gottes Geist, den macht er rasen, daß das Künftige er spricht.»
Michelangelos Marmorskulptur des Bacchus,° die Massimiliano Sol-
dani Benzi getreulich in Bronze kopierte, ist Ausdruck des Gefallens, wel-
ches der große Bildhauer der Renaissance am bacchischen Mysterium
hatte.’ Er schuf einen aufrecht stehenden, zugleich aber schwankenden Gott,
denn mit gliederlösender Wirkung durchdringt das berauschende Getränk
den muskulösen doch weichen Körper des nackten Jünglings. Efeublätter
und Weintrauben schmücken sein gehörntes Haupt. In der erhobenen
Rechten hält er ein Trinkgefäß.® Die herabhängende Linke greift in das Fell
eines gehäuteten Leoparden. Ein kleiner, ziegenbeiniger Satyr — Satyrn und
Nymphen gehörten zum Gefolge des Bacchus — steht hinter ihm und er:
freut sich am Geschmack der süßen Trauben. Ascanio Condivi, der zeitge-
nössische Biograph Michelangelos, schreibt: «Dieses Werk stimmt in Gestalt
und Pose in jedem Teil mit der Beschreibung der alten Schriftsteller über-
ein: das Gesicht fröhlich, die Augen schielend und lüstern wie bei denen, die
übermäßig von der Liebe zum Wein besessen sind. In seiner Rechten hält er
eine Schale, als ob er gerade trinken wolle, und betrachtet sie verliebt, voller
Freude an dem Getränk, dessen Erfinder er war ...»° Condivi zieht einen auf-
schlußreichen Vergleich zwischen Kunstwerk und-antiker Literatur. Michel-
angelo aber ging es mit seinem Bacchus mehr noch darum, nicht nur den
alten Schriften, sondern auch den antiken Skulpturen selbst zu entsprechen.
An diesen nahm er Maß, und diesen galt sein schöpferischer Eifer, «denn ge-
lang es ihm, sie täuschend ähnlich nachzuahmen, so bewies das, daß er ihre
Kunst vollkommen verstand».
Viel Bewunderung erntete Michelangelos Skulptur, und doch schie-
den sich früh schon die Geister an ihr. Sie habe, so hieß es, «einen Ausdruck
höchst abstoßender Zügellosigkeit» und stelle ein «Mißverständnis von Geist
und Bedeutung des Bacchus» dar.!! Immerhin besaß kein Geringerer als Kö-
nig Ludwig XIV. eine Kopie des Werkes, und so erstaunt es nicht, daß auch
Fürst Johann Adam Andreas I. von Liechtenstein seine Zustimmung gab, als
Soldani ihm gleichfalls einen Abguß in Bronze anbot, zu welchem der Fürst
noch die Kopien der Venus Medici (siehe Nr. 2) und des Tanzenden Faunes
(siehe Nr. 57) in Auftrag gab. Soldani hatte eine hohe Meinung von Michel-
angelos Bacchus und sah in ihm ein vollkommenes Werk des Künstlers. Bei
der Umsetzung des Vorbildes in das Medium der Bronze war er um äußer-
ste Präzision bemüht, vor allem um eine möglichst feine Oberflächenbe-
handlung, denn Fürst Johann Adam Andreas hatte eine ausgeprägte Vorliebe
für dieses Werkmaterial, auch wenn das kopierte Original, wie im Falle des
Bacchus, aus Marmor bestand. Um so mehr muß es Soldani geschmerzt ha-
ben, daß ihm der Fürst in einem Brief vom 4, April 1703, nachdem er die