Seit römischer Zeit, als noch Amphoren der
Weinlagerung dienten, hatte der Wein sein ganzes
Leben stets im Fass verbracht. Glasflaschen waren
schon zu jener Zeit bekannt, zählten aber noch über
Jahrhunderte hinweg zu den Luxusgütern. Sie wur-
den nur gelegentlich zum Servieren bei Tisch anstelle
von Karaffen verwendet. Ende des 17. Jahrhunderts
wurde der Korken als Flaschenverschluss entdeckt.
Es zeigte sich bald, dass sich in festverkorkten Fla-
schen gelagerter Wein länger als fassgelagerter hielt.
Weiter wurde erkannt, dass der Wein in Flaschen
anders reift und mehr Bukettstoffe entwickelt. Erst
die industrielle Massenproduktion aber erlaubte die
Herstellung preisgünstiger Flaschen und damit die
serienmässige Flaschenabfüllung wertvollerer Weine.
Der Inhalt der Flaschenabfüllungen musste sogleich
gekennzeichnet werden. Entweder wurde der Jahr-
gang mit Wachskreide auf die Flaschen geschrieben
oder auf kleinen, mit Tinte von Hand beschrifteten
Zetteln auf die Flaschen geklebt.® Die Etikette war ge-
boren.
Heute findet der Weinliebhaber auf der Etikette
alle wichtigen Auskünfte über Art und Beschaffenheit
des Weines, den er in der Flasche vor sich hat. Sie ist
Informationsträger und rechtsverbindlicher Garant
in einem (Abbildung 8). Einschlägige gesetzliche
Bestimmungen fordern, dass den Angaben auf der
Etikette zweifelsfrei entnommen werden kann, was
für ein Produkt die angebotene Flasche enthált.? Es
soll an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass die
Gesetzgeber der verschiedenen Anbaulàánder ganz
unterschiedliche Anforderungen an den Inhalt der
Etiketten stellen. Die Bestimmungen für die Etiketten
der Landweine unserer Region sind im Vergleich zu
den Gesetzen anderer Anbaugebiete noch recht libe-
ral und einfach ausgefallen. Das Flaschenschild soll
primár informieren und nicht propagieren. Das
Wahrheitsprinzip ist gefordert. Der Etikette kann
der Konsument Informationen über Herkunft und
Ursprung des Weines, über den Produzenten, über
die Lage des Weinbergs, über das Anbaujahr, über das
Rebgut und über Verschnitte, über die Bereitungsart
und gelegentlich auch über die Ertráge!? entnehmen.
Klar ist, dass sàmtliche Angaben noch nicht allzuviel
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NUN
über die jeweilige tatsächliche Qualität des Tropfens
im Glas besagen. Aber die alte Binsenweisheit vom
Auge, das mitisst und mittrinkt, gilt selbstverständlich
auch für den Wein und andere Getränke.
Baron Philippe de Rothschild:
ein Wegbereiter
Das faszinierende Weingut Mouton Rothschild im
Medoc produziert einen Wein, der oft zum Besten
gezählt wird, was das Bordeaux jährlich an edlen
Tropfen hervorbringt. In die Geschichte — auch in die
Kunstgeschichte! — ist Mouton Rothschild wegen sei-
ner Weinetiketten eingegangen (Abbildung 9). Seit
dem Jahr 1945!! werden diese auf Initiative von Baron
Philippe de Rothschild? im oberen Drittel jährlich
von einem anderen renommierten Künstler gestaltet.
Grosse Namen wie Jean Cocteau (1947), Salvador
Dali (1958), Henry Moore (1964), Marc Chagall
(1970), Wassily Kandinsky (1971) oder Hans Erni
(1987) reihen sich in die illustre Galerie der Gestalter
ein. Baron Philippe de Rothschild liess für eine
Etikette immer mehrere Vorschlàge von Künstlern
ausarbeiten. Zum Zeitpunkt der Flaschenabfüllung
wählte er jenen Entwurf aus, welcher seiner Meinung
nach dem gegenwärtigen Jahrgang am meisten ent-
sprach. Oftmals spiegelt sich in den kleinen Kunst-
werken entweder die Qualität der Ernte oder ein für
das Chäteau Mouton Rothschild bedeutendes Ereig-
nis im Lesejahr wider. Mit Hans Erni nahm Roth-
schild erstmals-1986 Kontakt wegen eines Etiketten-
entwurfs auf. Es scheint aber mehr als nur ein
aussergewóhnlicher Zufall zu sein, dass gerade der
Schweizer Hans Erni, fasziniert vom Baron und des-
sen pragendem Einfluss auf das Château, eine Eti-
kette entwickelt hat, welche rebenumrankt im Zen-
trum das Portrait des Barons zeigt. Mit dieser Etikette
konnte die heutige Besitzerin Baronesse Philippine
de Rothschild ihrem Vater die letzte Ehre erweisen,
indem sie für die Etikette der letzten Ernte des
Barons, für den 87er Mouton, das Werk des von ihm
zuletzt kontaktierten bekannten Schweizer Künstlers
auswählte.