MD
6,2
Pierre Courteys
Frankreich, tätig 1544-1581, gest. vor 1591
ÄNEAS RETTET ANCHISES AUS DEM BRENNENDEN TROJA
Frankreich (Limoges), Mitte des 16. Jahrhunderts
Email, teilweise vergoldet, auf Kupfer; 43 x 54 cm
Signiert (in Gold, unten links): P CORTEYS
Liechtenstein Inv. Nr. 226
Gegen Ende des zweiten Buchs der Äneis beschreibt der trojanische Edelmann Äneas, wie er mit
seinem alten Vater Anchises auf dem Rücken das brennende Troja verläßt. Diese Beschreibung trifft
auf die zentrale Gruppe der vorliegenden Emailtafel zu: eine nackte männliche Figur, die einen
älteren, bärtigen und ebenfalls unbekleideten Mann trägt. Mit ihrem Hab und Gut fliehen auch andere
Gestalten aus der in Flammen stehenden Stadt. Wenn es sich bei den beiden Männern tatsächlich um
Äneas und Anchises handelt, dann ist das Kind, das einen kleinen Hund an sich drückt, vermutlich
Äneas’ Sohn Askanius, der den Untergang der Stadt ebenfalls überlebte.
Vor der zentralen Gruppe befindet sich ein ebenso auffallendes Paar eines nackten Mannes, der eine
alte Frau auf dem Rücken trägt. Für diese Figuren gibt es keine Prototypen in der Äneis. Die alte
Frau kann nicht Äneas’ Mutter, die Göttin Aphrodite, sein, die nie alt war und auch nie Hilfe nötig
hatte. Auch kann es sich nicht um seine Frau Kreusa handeln, die, bevor sie bei der Plünderung der
Stadt umkam, das Schicksal ihres Mannes als Gründer Roms vorausgesagt hatte.
Diese Diskrepanz kann jedoch dadurch erklärt werden, daß die vorliegende Emailtafel nicht zum
Penni-Mignon Zyklus des Trojanischen Krieges gehört, sondern von einer Freskomalerei in der
Galerie des Königs Franz I. in Fontainebleau von Giovanni Battista di Jacopo di Gaspare, genannt
Rosso oder Il Rosso Fiorentino (1495-1540), stammt. Beguin und Pressouyre (1972, S. 134-135)
zufolge wurde im frühen siebzehnten Jahrhundert behauptet, daß dieses Fresko das brennende Troja
darstelle. Diese Annahme wurde zugunsten des Vorschlags von Pierre-Jean Mariette, einem
französischen Stecher und Kunstsammler des achtzehnten Jahrhunderts, daß das Bild die Zerstörung
Catanias darstelle, aufgegeben. In dieser Erzählung retten die Brüder Amphinomus und Änapias ihre
Eltern aus der brennenden Stadt. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurde die Deutung von ul
Rossos Fresko als der Zerstörung Catanias jedoch wieder in Frage gestellt und in “Respekt vor den
Eltern” umbenannt. Welche Interpretation man auch für die Freskomalerei Il Rossos wählt, sicher ist,
daß das Thema des Liechtensteiner Emailkunstwerks eindeutig einen Zyklus des Trojanischen
Krieges abschließen sollte, und Äneas rettet Anchises aus der brennenden Stadt scheint, trotz der
Unstimmigkeiten in der Ikonographie, der geeignetste Titel für die Tafel zu sein.
Barocchi (1950, S. 141-143, Abb. 130) assoziierte die zentralen Figuren von Il Rossos Fresko mit
dem unvermeidlichen Prototyp Raffaels, diesmal einer Gruppe im linken Vordergrund des Feuers im
Borgo, einem Fresko in der Stanza dell’Incendio im Vatikan. Weiterhin erwähnte Barocchi die
Existenz zweier Drucke von Il Rossos Fresko. Einen davon (Bartsch, Bd. 16, Pkt. 2 [1876], S. 413,
Nr. 93, oder Zhe Illustrated Bartsch, Bd. 33 [1979], S. 368) hatte Herbet in seinem Katalog der
Werke von Antonio Fantuzzi (ca. 1508-1550) aufgeführt. Fantuzzi arbeitete als Maler unter
Primaticcio in Fontainebleau und wurde später einer der besten Druckhersteller der Schule von
Fontainebleau (Herbet 1900, Pkt. 2, S. 279, Nr. 33). Zerner (1969) verwarf diese Zuordnung jedoch
in seiner Studie der Druckhersteller der Schule von Fontainebleau. Der zweite Druck, vom
französischen Graphiker Rene Boyvin (ca. 1525-ca. 1580/1598) signiert, wurde von Robert-