Rubens gibt in seinem Bild Livius' Erzählung genau wieder. Die Anhänger des Konsuls und der
Priester sind zurückgetreten und lassen die beiden Protagonisten im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit. Decius Mus steht mit gesenktem Kopf vor dem Hohepriester Marcus Valerius, wie
Livius ihn nennt. Der Priester, in der Autorität des Mannes, der die göttliche Macht auf Erden
repräsentiert, streckt seinen Arm aus und berührt den Kopf des Konsuls in der altehrwürdigen Geste
des Segnens. Bei Livius findet diese Szene mitten im Kampf statt, Rubens entschied sich jedoch
dafür, das bewegende Pathos der Zeremonie zu betonen und hob die Kampfszene für ein späteres
Bild auf. Ernste Feierlichkeit prägt die Szene, und das Gebet selbst stellt die Handlung dar. Kern des
Rituals ist die römische Tugend der pietas - Rechtschaffenheit gegenüber Gott und den Menschen.
Pietas erfordert die Bereitschaft des Einzelnen, sich demütig den himmlischen Mächten zu
unterwerfen und das Wort Gottes zu ehren; es ist die wichtigste Tugend des Menschen. So gibt
Vergil beispielsweise seinem Held Aeneas den Beinamen pius. Wie Aeneas ist Decius Mus hier als
Held dargestellt, der diese besondere Tugend verkörpert. Das Einfühlungsvermögen in die
Denkweise der Antike, aber auch die strenge Einfachheit der Komposition und die beeindruckende
Gestaltung der Farbkomposition heben dieses Bild als emotionalen Höhepunkt des Decius-Mus-
Zyklus hervor.
Die meisterhafte Ausführung des Bildes wird noch dadurch gesteigert, daß Rubens an diesem Bild
sehr viel selbst gearbeitet hat. Große Teile der Leinwand weisen den charakteristischen, kraftvollen
Pinselstrich Rubens' auf, mit den schweren Konturen und den glitzernden Lichtern seiner
Modellierung. Gesichter und Hände, so die von Marcus Valerius beispielsweise, weisen ein freies
und fast skizzenhaftes Auftragen der Farbschichten übereinander auf, und der kraftvolle Gebrauch
von purem Rot ist als Kennzeichen der Maltechnik des Meisters zu sehen. Das Gewand des
Hohepriesters, dessen luxuriöse und schwere Textur vom hellen Licht belebt wird, ist ein
wunderbares Beispiel für diese rasche Pinselführung. Rubens wollte sich möglicherweise mit der
Darstellung der gemusterten Goldbrokade auf die altniederländische Tradition beziehen. Dem
gegenüber zeigt das entsprechende, von der Rubens-Werkstatt ausgeführte Motiv der
vorangehenden Szene der Opferschau den deutlichen Unterschied in der Qualität zwischen Rubens'
eigener Arbeit und der seiner Assistenten. Ein weiteres Element, das der Meister selbst malte, ist das
Pferd des Konsuls, das von wartenden Soldaten festgehalten wird. Dies ist zweifellos eines der
bemerkenswertesten Elemente des Zyklus und diente als Modell für die zwei folgenden Bilder, die
von der Werkstatt gemalt wurden. Kühne Pinselstriche betonen den plastischen Körper des Tieres,
das Skelett zeichnet sich klar unter der Haut ab. Fell und Mähne glänzen im Licht, wobei die lange,
wallende Mähne durch feine, geschwungene Linien, die der Maler mit der hölzernen Spitze des
Pinsels in die noch nasse Farbe geritzt hat, betont wird. Auch hier vergißt Rubens sein Bedürfnis,
sich an den alten Meistern zu messen, nicht. Der Schaum auf dem Maul des Pferdes wurde mit einem
Schwamm aufgetragen, wie Plinius die Methode des griechischen Malers Protogenes (Naturalis
historiae 35.103-4) beschreibt, der diese eigenartige Technik, derer sich auch Nealkes bediente,
erfunden haben soll. Verzweifelt darüber, ob er es jemals schaffen würde, naturgetreuen Schaum
darzustellen, warf Protogenes wütend einen Schwamm an die Leinwand und sah, daß er sein Ziel
erreicht hatte.
Die Darstellung des edlen Pferdes ist auf Tizian und antike Beschreibungen zurückgeführt worden
(siehe Held 1958, S. 146-147, zu van Dycks analog gemaltem Pferd von Karl I. von England).
Rubens gelang es jedoch, ein lebendiges Pferd zu schaffen, das offenbar spürt, welches Schicksal
seinem Herrn bevorsteht. Auf dem vorliegenden Bild scheint das Roß, obwohl es seinen Kampfgeist
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