Egon Schiele (1890-1918)
Mutter mit Kind, 1917
Schwarze Kreide und Deckfarben
29,7 X 46 cm
Bez. u. r. (schwarze Kreide): EGON SCHIELE 1917
„SK 85.09
Das umfangreiche zeichnerische Werk von Egon Schiele ent-
steht in der kurzen Zeitspanne eines Jahrzehnts. Mit dem Motiv
«Mutter und Kind» beschäftigt sich der Künstler in jeder Schaf-
fensphase seiner künstlerischen Entwicklung. Die frühen Werke
Schieles tragen symbolhaft verdichtet die Last der existentiellen
Not und des von tiefem Pessimismus geprägten Weltbildes. Das
1910 geschaffene Gemälde 7ote Mutter — in seinem eindringli-
chen Realismus Sinnbild des Lebens, das im Kreislauf von Wer-
den und Vergehen von seinem Anbeginn an gefährdet ist — steht
»eispielhaft dafür.
Innerhalb des graphischen (Euvres nach 1915 erscheint das
Motiv vom expressionistischen Pathos befreit. Die vormals auf
len Mutter-Kind-Darstellungen lastende Tragik weicht allmäh-
lich Bildern voller Geborgenheit und Harmonie. Die mitunter
Jualvoll verzerrte menschliche Gestalt und die ekstatisch gela-
dene Linearität der Zeichnung Schieles besänftigen sich. Dieser
von einer gestärkten Daseinsgläubigkeit sprechende stilistische
Wandel, vielfach durch die Heirat Schieles mit Edith Harms er-
<lärt, wird vor allem in den letzten beiden Schaffensjahren wirk-
sam. Bei den Mutter-Kind-Darstellungen porträtiert Schiele mit
Vorliebe seine Frau zusammen mit seinem Neffen Toni, aber
auch Bekannte mit ihren Kindern. Die vorliegende Darstellung
lässt sich in Verbindung bringen mit mehreren im gleichen Jahr
antstandenen Blättern: Die gegenseitige, enge Umarmung wan-
delt Schiele in zwei Zeichnungen ab,‘ auf zwei weiteren Blättern
das sitzende Mädchen mit Schleife im Haar.? Kompositionell
lässt sich eine Verwandtschaft zu der Gouache mit schwarzem
3leistift Liegender Junge, ebenfalls von 1917, feststellen.” Auch
hier wählt Schiele ein Querformat. Die das Bild durchziehende
Diagonale wird gegen den rechten Rand abrupt in eine Senk-
rechte gebrochen, welche durch die Linien der Profile und des
Mädchenkörpers doppelt geführt ist. In der Dreieckkomposition
werden Mutter und Kind zu einer Einheit.
Die für diese Schaffensphase charakteristisch mit zum Teil fast
!rockenem, breitem Pinsel sparsam aufgetragene Farbe model-
liert sanft die Körper, wirkt verbindend und harmonisierend.
Das Gelbbraun der Strümpfe der Frau korrespondiert in einer
differenzierten Abstufung mit ihren Haaren und denen des
Mädchens sowie der etwas helleren Schleife in seinem Haar, der
kräftig leuchtende, veilchenblaue Besatz ihres Unterhemdes mit
den Socken des Mädchens.
Die Blickrichtung führt die mehrfach unterstrichene Aufeinan-
derbezogenheit weiter. Sie schliesst den Betrachter als Dritten
völlig aus: Die verborgene Quelle des Interesses lässt ihn keinen
Anteil an der Gemeinschaft nehmen. Diese Besonderheit rückt
die Darstellung in die Nähe des im darauffolgenden Jahr ent-
standenen Gemäldes Die Familie, Schieles Hauptwerk der letz-
en Lebensjahre. Wenn darin auch «eine intime menschliche
Verbindung von Mutter und Kind nicht eigens akzentuiert wird,
so bilden beide doch [...] eine Einheit, von welcher der Mann ge-
trennt und ausgeschlossen ist. Mit wachen, fragenden Augen
ragt sein Haupt über die Horizontlinie hinaus in eine Sphäre
nächtlicher Dunkelheit.»* Unter Berücksichtigung dieses Kon-
textes und im Unterschied zu den frühen Darstellungen erhält
das Motiv in demmletzten Schaffensjahren Schieles einen neuen
inhaltlichen Akzent, der Frau und Mann verschiedene Rollen
zuweist, die sie trotz möglicher Annäherung in der erotischen
Beziehung isolieren und entfremden. MS.
Kallir, Jane: Egon Schiele. The Complete Works. Including a Biography and a
Catalogue Raisonne. New York/Milano, 1990, vgl. S. 568, Nrn. 1873 u. 1875.
Ebd,, Nrn. 1877 u. 1878.
Ebd.,, Nr. 1880.
Mitsch, Erwin: Egon Schiele 1890-1918. München, 1975, S. 52.