der Zeichnung eine selbständige Bedeutung zugemessen,
die sie wie niemals zuvor in der Geschichte zum integra-
len Bestandteil der künstlerischen Entwicklung machte.
Einige Maler sind von der Fragilität des Papiers fasziniert
und malen und zeichnen ausschliesslich auf Papier — man
denke beispielsweise an den Schweizer Rolf Iseli. Zeich-
nen ist für Künstler oft der Schlüssel zu ihrem Werk ge-
worden: Robert Motherwell, Claes Oldenburg, Arshile
Gorky — ihre Arbeiten auf Papier weisen uns den Weg zu
ihrem Werk. Für Oldenburg ist die Zeichnung ein Teil
seines plastischen Schaffens. Für Richard Serra ist sie
unabdingbar für den schöpferischen Prozess: «Zeichnen
ist für mich eine Art und Weise, einen inneren Monolog
zu führen, indem ich es tue und während ich es tue.»
Einer der grossen Neudenker unseres Jahrhunderts, Joseph
Beuys, hat parallel zu seinen Skulpturen, Objekten und
Aktionen ein immenses zeichnerisches Werk geschaffen,
das seiner gesamten Arbeit die Basis gibt. Für ihn war
Zeichnen «my selection of thinking forms in evolution»,
wie er zu seinem 456 Blätter umfassenden Zeichnungs-
block The secret block for a secret person in Ireland an-
merkte, der in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jah-
ren entstanden ist, aber nur einen Teil seines gesamten
zeichnerischen Werks bildet. Gerade dieses unter einem
Thema zusammengeschlossene Werk monumentalen Aus-
masses, in allen denkbaren zeichnerischen Techniken
ausgeführt, mag uns das Zeichnen als bedeutsamen Fak-
tor im Schaffen eines Künstlers vor Augen führen. Mit
der Zeichnung kann man in nuce das Temperament eines
Künstlers erfassen. Sie sagt ebensoviel über ihn wie über
sein Werk aus. Zentral war sie etwa im Korpus eines
jeden Künstlers des Surrealismus. In der automatischen
Zeichnung, der «Ecriture automatique», lag die Idee des
Surrealismus verborgen und konnte sich nirgends besser
darstellen als eben in diesem Medium.
In der Zeichnung erlebt der Betrachter die Einheit von
Geist und Hand. Er spürt die Energie des Künstlers, denn
er folgt seinem Strich und gerät mitten in seinen Schaf-
fensprozess. Um dieser Direktheit willen ist die Zeich-
nung heute vielen Sammlern und Kunstliebhabern so
wichtig. Noch nie hat es so zahlreiche Ausstellungen ge-
geben, die Arbeiten auf Papier gewidmet sind, wie heute.
Es ist kaum anzunehmen, dass sich diese Situation in
Zukunft ändern wird. Die Zeichnung wird immer die
reinste Aussage der kreativen Fähigkeit eines Künstlers
bleiben. Sie wird immer das bevorzugte Instrument für
den Künstler sein, Ideen frei zu entwickeln und in einem
unmittelbaren Dialog mit dem Papier zu fixieren.