Volltext: Bestandeskatalog

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) 
Bergbach mit Steg im Wald, 1921 
Öl auf Leinwand 
79 X 71 cm 
Gordon 662 
SK 88.19 
Das Gemälde Bergbach mit Steg im Wald gewinnt seinen Reiz 
aus den spannungsreich gesetzten Farb- und Formkontrasten. 
Angelpunkt der Komposition bildet der leuchtend rote Steg, der 
die weiss-blaue Diagonale des Bergbachs unterbricht. Den Sturz 
des Wassers begleitet rechts kaskadenartig eine in Rosatönen 
gehaltene Felsformation, die ihre Entsprechung in einer Fels- 
wand jenseits des Baches findet. Die Gesteinsmassen werden 
lurch die gelborange Doppelkurve des Weges optisch zusam- 
nengebunden. Kältere und dunklere Farbtöne im oberen Bild- 
Irittel rücken den Wald als Kulisse in den Hintergrund, aus dem 
»inzelne Bäume durch intensiveres Kolorit hervortreten. 
«Die Bilder der letzten deutschen Schaffensperiode waren cha- 
:akterisiert durch eine wie durch perlmuttrige Nebel irisierende 
Farbe. In den neuen Arbeiten wird die Farbe rein und leuchtend. 
Die klare Luft der Berge löste diese Farbgebung aus. [...] Die 
Änderung der Form und der Proportion sind [sic!] nicht Willkür, 
sondern dienen [sic!] dazu, den geistigen Ausdruck gross und 
zindringlich zu gestalten und die Farbe in der für den betreffen- 
den Ausdruck nötigen Menge zu fassen. [...] Kirchner gestaltet 
frei und unmittelbar neue Hieroglyphen. Die Gestaltung bleibt 
in der Fläche und täuscht keine Plastik vor. [...] Parallel mit der 
Gestaltung der Form geht die der Farbe. Es gibt weder Licht 
aoch Schatten. Einzig die Farben in ihrem Zusammenklang 
zeben das Erlebnis. Alles ist Fläche. Rein spricht in dieser 
Fläche der geistige Wert der Farbe.» 
Das Zitat stammt aus einem Artikel, den Kirchner 1921 unter 
dem Pseudonym Louis de Marsalle für den Katalog einer ihm 
zewidmeten Ausstellung der Frankfurter Galerie Ludwig Scha- 
mes verfasste. Kirchners eigene Einschätzung seiner Malerei ist 
für unsere Betrachtung von besonderem Belang, da Bergbach 
mit Steg im Wald aus dem gleichen Jahr datiert. Sieht man ein- 
mal von Kirchners Forderung nach Autonomie von Form und 
Farbe ab, die der damaligen künstlerischen Moderne keineswegs 
fremd war, ja ohne Einschränkung auch für die Fauves gelten 
könnte, so gibt sich der Autor der zitierten Zeilen doch deutlich 
als Künstler des Expressionismus zu erkennen: Erlebnis, geisti- 
ger Ausdruck und geistiger Wert der Farbe sind Schlüsselwörter 
“ür einen Maler, der seine künstlerische Kraft aus der Betroffen- 
heit angesichts des beeindruckenden Naturvorbilds bezieht. Zur 
Steigerung des Ausdrucksgehalts verdichtet Kirchner das Motiv 
mit den genannten Mitteln zu einer Bildformel, die er Hierogly- 
phe nennt. Dass es dem Künstler oft schwerfiel, die grandiose 
Alpenwelt in eine adäquate Bildrealität umzusetzen, belegt fol- 
gende Briefstelle: «Ich sehnte mich so danach, aus der reinen 
Phantasie Arbeiten zu machen, was man so ın Träumen sieht, 
aber der Eindruck der Wirklichkeit ist so reich hier, dass deren 
Gestaltung alle Kräfte auffrisst.»” Doch wenn Kirchner 1919 
ıoch seinem Tagebuch anvertraut: «Ich muss zwei Malereien 
machen, eine von der Natur, eine ganz frei aus dem Kopf»,* so 
entschied er diesen Kampf zwischen Naturform und Kunstform 
zusehends für sich. Waren die Gemälde der frühen Davoser Zeit 
noch von-einer am Naturvorbild angelehnten kleinteiligen, ner- 
vösen Pinselschrift und einer oft unentschiedenen Komposition 
bestimmt — etwa beim motivisch ähnlichen Werk Der Wasserfall 
‘Kientobel)* —, so gewinnt das Bildgefüge um 1921 durch mar- 
kantere Farbflächen an Eigenständigkeit und Halt. Sicher ist es 
kein Zufall, dass die-neue Kraft in den Arbeiten dieser Phase mit 
dem Zeitpunkt zusammenfällt, in dem Kirchner die Medika- 
mente absetzen konnte, die er zum Entzug seiner Abhängigkeit 
vom Morphium benötigte. PM. 
Grisebach, Lothar: E. L. Kirchners Davoser Tagebuch. Eine Darstellung des Malers 
und eine Sammlung seiner Schriften. Köln, 1968, S. 195 f. 
Brief Kirchners an Eberhard Grisebach vom 26.12.1918. In: Grisebach, Eberhard: 
Maler des Expressionismus im Briefwechsel mit Eberhard Grisebach. Hamburg, 
1962, S. 95, 
Wie Anm. 1, 8.47. 
Gordon, Donald E.: Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher 
Gemälde. München, 1968, Nr. 566. Farbige Abb. in: Ernst Ludwig Kirchner 
880-1938. Ausst.-Kat, Nationalgalerie Berlin (und weitere Orte). Berlin, 1980, S. 249
	        

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