Richard Serra (*1939)
Ohne Titel, 1989
_ithographie
52,5 X 88,5 cm
Bez. u. r.: R.S. IL/40 89
“SK 89.17
Richard Serra ist in erster Linie ein Plastiker, der sich mit unge-
wöhnlicher Radikalität mit dem Aussen- und Innenraum ausein-
andersetzt. Sein (Euvre zeigt in der Wahl und Behandlung des
Materials Einflüsse der Arte povera und teilt mit der Minimal
Art den Anspruch, das Kunstwerk nicht als Träger vorgefasster
[deen zu verstehen, sondern als Ausdruck seiner selbst. Elemente
der Concept Art fliessen mit der Betonung des Prozesscharak-
‚ers und der Rolle des Betrachters als dem eigentlichen Vollender
des Kunstwerks in Serras Arbeiten ein.
Auch das druckgraphische Werk, das seit 1972 in enger Anleh-
nung an das plastische Schaffen entsteht, trägt deutliche Spuren
‚on Serras künstlerischen Intentionen. Den Schritt zu einer
sigenständigen druckgraphischen Ausdrucksform leiten 1981
grossformatige Lithographien ein.‘ Trotz der darin sichtbaren
visuellen Analogie zum Erscheinungsbild der Plastiken, die
auch auf dem vorliegenden Blatt zutage tritt, liegt der
Berührungspunkt nicht im Versuch, die räumliche Sprache in
die zweite Dimension zu übertragen. Vielmehr gelingt es Serra,
mit den spezifischen Materialeigenschaften und Ausdrucks-
mitteln des Mediums gewisse Merkmale der Plastik in die
Fläche zu transformieren.
Ibwohl die vorliegende, 1989 entstandene Lithographie nicht
Jereits mit dem Titel auf eine Plastik verweist, wie etwa die Li-
ihographie Spoleto Circle von 1972 oder die Serigraphie Clara-
Clara I von 1985, ist der Bezug zu Serras langjähriger Arbeit
mit gebogenen Stahlplatten unverkennbar. Das massive Stahl-
zlement hat der Künstler erstmals 1980 bei St. Johns Rotary Arc
in New York angewendet. Beinah ausnahmslos beschäftigt er
sich seither mit Variationen der Stahlbogenform. Das Zusam-
nenspiel von Form und Oberflächenbeschaffenheit in diesem
Feil seines (Euvres erscheint als visueller Ausgangspunkt des
Blattes: Dem Betrachter bietet sich gleichsam der Anblick eines
Ausschnitts des konkaven Runds einer rostdunklen, tonnen-
schweren Stahlwand.
Die kompakte dunkle Fläche stösst oben und seitlich hart an die
Ränder. An der unteren Kante des Querformats bleibt als flacher
Bogen der weisse Grund des Papiers ausgespart. Die Oberfläche
les Blattes trägt Spuren des intensiven Bearbeitens der Druck-
»latte bei jedem der drei Druckgänge.” Das Resultat, die
1ochdifferenzierte vertikale, leicht reliefartige und über die Be-
zrenzung des Blattes hinausweisende Struktur, suggeriert
Ausdehnung und Plastizität, die in den sich mehrfach über-
'agernden, aufgerauhten und samtig glänzenden Stellen in
Schwarz- und Braunschwarztönen gründet. Die gesättigte, von
Schwarztönen dominierte Farbfläche vermittelt den Eindruck
von Dichte, Blockhaftigkeit und Gewicht. Diese Wirkung ist das
3rgebnis der Analyse der Wahrnehmung unterschiedlicher For-
men und Materialien. Serra selbst verweist auf die potentielle
Konditionierung der Wahrnehmung, die zweite in die dritte Di-
nension zu übertragen: «Von Mantegnas Christus bis zu Cezan-
1es Äpfeln ist es offensichtlich, dass Formen Gewicht, Masse
ınd Volumen implizieren können.»* Die für Serras Schaffen
wichtigen Aspekte Materialität und Prozesscharakter äussern
sich mehrfach. Die handwerkliche Auseinandersetzung mit
den Materialien-verbindet strukturell plastisches und druckgra-
»hisches Schaffen.” Die Spuren des komplexen Arbeitsprozesses
»leiben in der endgültigen Druckfassung sichtbar. Die Reflexion
des Künstlers über sein eigenes plastisches Schaffen mit Mit-
ieln der Druckgraphik verlangt ein aktives, nachvollziehendes
Sehen, das als ein mögliches Thema der Lithographie die Wahr-
nehmung der Plastik zu erschliessen vermag. M.S.
Richard Serra. Das druckgraphische Werk/Prints — A Catalogue raisonne 1972-1988
Bochum, 1988, Nrn. 20-24.
Die Plastiken Spoleto Circles sind 1972, Clara-Clara 1983 entstanden.
Vgl. Informationsblatt zur Lithographie, Fondation Grandfey, Fribourg, 1989.
Serra, Richard: Über das Zeichnen. In: Richard Serra — Schriften/Interviews
:970-1989. Bern, 1990, S. 200.
Wie Anm. 1, 5.9.