Volltext: Bestandeskatalog

Pierre Alechinsky (*1927) 
Ephemerides brouillges, 1980 
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Farbradierung 
172 X 94 cm 
Bez. u. 1. (brauner Farbstift): 5/35, u. M.: Ephemerides 
brouillees, u. r.: Alechinsky 1980 
Butor/Sicard 109 
LSK 82.59 
Pierre Alechinsky war Mitglied der Künstlergruppe «Cobra», 
die 1948 in Paris gegründet wurde und bis 1950 bestand. Mit sei- 
nem Landsmann, dem Belgier Corneille, dem Dänen Asger 
Jorn, den Holländern Karel Appel und Constant teilte er die 
Auffassung, dass lebendige Malerei nicht Resultat bewusster, 
vom Intellekt gesteuerter Anwendung ästhetischer Gesetze sei, 
sondern Hervorbringung von aus der Tiefe des Unbewussten ge- 
schöpften archetypischen Bildern und Symbolen, die sich erst 
im spontanen Malakt manifestieren. In Alechinskys Werken ver- 
aindet sich die graphische Form mit der Erinnerung an Schrift- 
zeichen, auf diese Weise dem Begriff Graphik seinen ursprüng- 
'ichen Sinn von Schreibkunst zurückgebend. Mit der Belegung 
der Fächer Buchillustration und Typographie an der Ecole Na- 
tionale Superieure d’Architecture in Brüssel zeigte sich schon 
früh Alechinskys Affinität zu den graphischen Künsten. Nach 
der Auflösung von «Cobra» zog der Künstler 1952 nach Paris, 
ım im «Atelier 17» von S. W. Hayter die verschiedenen graphi- 
schen Techniken zu erlernen. ; 
Alechinsky ist Linkshänder; diese Tatsache hat ihn gerade für die 
Schönheit fernöstlicher Schreibkunst sensibel gemacht. Seine 
Faszination fand ihren Ausdruck im Film Calligraphie japonai- 
se, den er 1955 in Kyoto drehte. Geistige Läuterung durch Ver- 
vollkommnung des Schreib- bzw. Malakts, das Grundanliegen 
der japanischen Kalligraphen, wollte Alechinsky auch für seine 
eigene Kunst dienstbar machen, um dadurch eine «Rückkehr zu 
den zerstörten Quellen des Imaginären und des Wunderbaren» zu 
ermöglichen.‘ Diese Quellen fliessen dem Künstler am ehesten 
zu, wenn er sich bei der Arbeit über den am Boden liegenden 
Bildträger beugt, sich sozusagen in ihn versenkt, statt — wie der 
westliche Künstler — dem Bild auf der Staffelei aufrecht gegen- 
überzustehen und immer wieder. den Intellekt einschaltend. zur 
Prüfung des Geleisteten zurückzutreten.” Alechinskys Sensorium 
für den stofflichen Reiz des Papiers lässt ihn für seine Arbeiten 
die verschiedensten Malgründe auswählen: Papier aus China, 
Japan, Korea, Taiwan (auf Taiwanpapier sind die beiden Radie- 
rungen der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung 
LSK 82.59 und 82.60 gedruckt), Seiten aus alten Kassen- 
büchern, Notariatsakten, alte Rechnungen beispielsweise. 
Das hier gezeigte Werk trägt den Titel Ephemerides brouillees, 
was mehr als ironischer Kommentar denn als Hinweis darauf ge- 
meint ist, dass in dem verschlungenen Labyrinth wirklich «Ver- 
wirrte Eintagsfliegen» zu erkennen wären. Der Titel hat nach 
Alechinsky die Funktion, den assoziativen Prozess in Gang zu 
bringen: «Der Titel wird dem Bild aufgepfropft. Er ist ein Knoten 
im psychologischen Taschentuch, damit man nicht vergisst, dar- 
über nachzudenken...».* Alechinsky setzt die surrealistische 
Technik der Gegenüberstellung von einander Fremdem, hier 
von figürlich-konkreter Benennung im Titel und ornamental- 
abstrakter Bildstruktur, ein, um eine poetische Bildrealität zu 
schaffen. Mit dem «Test du titre» übertrug der Künstler die Auf- 
gabe der Titelgebung gar auf den Betrachter, indem er eine 
Reihe von Personen bat, sechs seiner Bilder mit Titeln zu verse- 
hen.” Das Bildfeld von Ephemerides brouillees wird im unteren 
Drittel von einem waagrechten Band mit zellenartigen Gebilden 
durchzogen,-in-denen man, dem Bildtitel folgend, die Eier der 
Fliegen erkennen möchte. Nach Alechinsky haben diese comic- 
artigen Bildstreifen — die er «Marginalien» nennt, wenn sie dem 
Rand entlanglaufen — dieselbe Funktion wie die Predellen bei 
mittelalterlichen Altären, die mehrere kleine, sich auf das 
Hauptthema beziehende Szenen zeigen.‘ PM 
Pierre Alechinsky. Jenseits der Schrift. In: Pierre Alechinsky. Ausst.-Kat. 
Kestner-Gesellschaft, Hannover, 1980, S, 64. 
Pierre Alechinsky. Öffnungen auf Anderswo. In: Pierre Alechinsky. Ausst.-Kat.. 
wie Anm. 1, S. 57. 
Zu den grossformatigen Radierungen siehe Butor, Michel; Sicard, Michel‘ 
Alechinsky. Travaux d’impression. Paris, 1992, S. 108-112. 
Zit. nach Krimmel, Bernd: Schlangenhaut. In: Pierre Alechinsky. Ausst.-Kat. Darm- 
stadt, 1974, 0.5. 
Pierre Alechinsky. Margin and Center, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover, 1988. 
31. 
Ebd... S. 17. u. 37. 
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