Volltext: Bestandeskatalog

Sam Francis (1923-1994) 
Ohne Titel, 1977 
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€ 
Acryl 
47,9 X 35,9 cm 
Bez. verso: Sam Francis 1977 
LSK 78.08 
Sam Francis, von dem die Liechtensteinische Staatliche Kunst- 
sammlung mehrere Werke besitzt, gehört der zweiten Generation 
der Abstrakten Expressionisten an. Fanden die im ersten und 
zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts geborenen Pioniere in Mythen 
und primitiven Kulturen ihre Inspirationsquelle — Clifford Still 
im Schamanismus und Totem der Indianer, Mark Rothko in grie- 
chischer Kunst und Sagenwelt, Jackson Pollock in archaischen 
Ritualen —, so konnte Sam Francis, wenig interessiert an den 
Wurzeln ihrer Kunst und frei von deren Hang zur Schwermut, 
direkt bei den ästhetischen Neuerungen seiner Vorbilder an- 
knüpfen.‘ Seine noch in Kalifornien entstandenen Werke zeugen 
unverkennbar vom Einfluss der beiden erstgenannten Künstler, 
während Pollocks Technik des Dripping später von Sam Francis 
adaptiert wurde. 
Nach der Übersiedlung nach Paris im Jahre 1950 schafft sich der 
Künstler mit den White paintings einen eigenen Stil: Dicht an- 
einandergefügte Zellen in einem gebrochenen, dünnflüssig auf- 
getragenen Weiss bedecken die Leinwand und evozieren einen 
mit diesigem Licht verschleierten Himmel, wie er für die fran- 
zösische Metropole typisch ist. Das Erlebnis der in der Orange- 
rie neu installierten Seerosenbilder Monets rückt die Farbe dre: 
Jahre danach wieder ins Zentrum. Um 1960 wird das atmo- 
sphärische Weite verströmende Blau die dominierende Farbe. 
Aus dieser Zeit stammt die bei Emile Mattieu in Zürich ge- 
druckte Farblithographie aus der Serie Happy Death Prints in 
der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung (LSK 
70.13). Zwei weitere, 1963 datierte Lithographien, nun durch 
den Tamarind Lithography Workshop in Los Angeles ediert, 
zählen ebenfalls zu den Beständen der Sammlung (LSK. 69.39 
und 75.01). Der Titel des einen Blattes — 7okyo mon amour — ist 
ein Liebesbekenntnis an die japanische Kultur, zu der er sich seit 
seiner ersten Japanreise 1957 hingezogen fühlte. Umgekehrt hat 
man in der Bewunderung der Japaner für Francis’ Malerei. die 
ihren Ausdruck in Aufträgen und Ausstellungen fand, mit Recht 
eine Verwandtschaft des ästhetischen Empfindens gesehen: 
Asymmetrie, ätherische Transparenz und Spontaneität des Vor- 
trags sind Merkmale, denen man sowohl in der japanischen 
Landschaftsmalerei, besonders des 15. Jahrhunderts, als auch in 
den Arbeiten von Sam Francis aus den späten fünfziger und 
sechziger Jahren begegnet.” 
Die biomorphen, blasenartigen Gebilde von Tokyo mon amour 
und zeitgleicher Werke sind 1973 — auf einer weiteren Lithogra- 
phie in der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung 
(LSK 81.09) — einem Balkengerüst gewichen, das wie ein «Him- 
melstor» den Blick in kosmische Welten zieht. Hat hier die leere 
Mitte die suggestive, zentripetale Kraft eines Mandalas, so 
tendiert die mit leuchtenden Acrylfarben auf Papier gemalte ne- 
benstehende Komposition in die Breite. Das 1977 datierte, nicht 
betitelte Werk gleicht einer Farbexplosion: Wie Blitze stürzen 
breite Farbbahnen aus kontrastreich gegeneinander gesetzten 
Farbklecksen im Zickzack durch den Bildraum. Der Dreiklang 
von Blau, Rot und Gelb, Äquivalent des Lichts, das schon die 
Neoimpressionisten und Orphisten in Farbe zu bannen suchten, 
beherrscht das Bild, indes das der Erde zugehörige Grün fast 
ganz fehlt. Das Ineinanderlaufen der Farbkleckse erzeugt irisie- 
rende Effekte, welche die Farbbalken zum Vibrieren bringen. 
Das Ganze überzieht_ein Muster von Tropfen und Spritzern, 
wobei hier das Dripping im Unterschied zur Malerei Jackson 
Pollocks nicht primär Ausdruck des gestischen Malakts ist und 
damit Eigenwert hat, sondern auf raumerzeugende Spannung 
zwischen Farbmaterie und Bildgrund zielt. Das vom Action 
Painting übernommene All-over der Farbspritzer findet in den 
Farbbalken einen Widerpart, zu dem es in einen akzentreichen 
Dialog tritt. In diesem Wechselspiel formaler Gegensätze liegt 
wohl die europäische Komponente in Sam Francis’ Kunst. 
«Amerikanisch» bleibt dabei, wie die Farbstreifen über das 
Bildfeld hinausführen und es als Ausschnitt eines unmessbaren 
räumlichen Kontinuums erscheinen lassen. PM. 
Alloway, Lawrence: Sam Francis: From Field to Arabesque. In: Artforum, vol. 17 
(1973), no. 6, S. 38. 
Selz, Peter: Sam Francis. New York, 1975, S. 62. 
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