Alberto Giacometti (1901-1966)
Bildnis des Schriftstellers Jacques Dupin, 1964
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Kugelschreiber
29,3 X 24,6 cm
LSK 75.22
Versetzt Alberto Giacometti in der vorangehenden Zeichnung
von 1962 die Gestalt von Jacques Dupin weit in den Hintergrund
und somit auf Distanz, so rückt hier der Porträtierte — den Ober-
körper weit vorgelehnt, den Ellbogen auf dem Knie, den Kopf in
die Hand gestützt — an den arbeitenden Künstler und Betrachter
ganz nahe heran. Das Bildnis scheint die Beziehung zwischen
dem Schriftsteller und Mitarbeiter der Pariser Galerie Maeght
und Giacometti, wie sie sich seit ihrem ersten Treffen fast genau
zehn Jahre vor der Entstehung des Bildnisses entwickelt hat,
nachzuzeichnen. Der Porträtierte ist weit mehr als ein Modell;
Giacometti fasst ihn hier präzis als einen aktiven und mitden-
kenden Beobachter des Arbeitsganges auf. Diesen Eindruck ver-
nitteln die Gebärdensprache und die Offenheit des Konturs
gerade im Bereich des Kopfes sowie die den Linien innewoh-
2ende Dynamik, Es ist insbesondere auch die Physiognomie,
das zwar nur vage Mund, Nase und Augen andeutende Linien-
gespinst, welches ein waches und interessiert konzentriertes
Blicken einfängt.
Tatsächlich hat sich die Beschäftigung Dupins mit dem Werk
von Giacometti in diesem für den Künstler wiederum so erfolg-
reichen Jahr erneut intensiviert. 1964 erwirbt die Galerie Maeght
einen Grossteil des Werkes, vor allem Plastiken. Sie werden im
Haupthof der im Sommer eröffneten permanenten Ausstellung
in der neuerbauten Fondation Maeght im südfranzösischen
Saint-Paul de Vence plaziert. Dupin ist an der Konzeption betei-
ligt und wegen des regen Austauschs, den die Vorbereitungen er-
fordern, häufig in Giacomettis Atelier präsent.
Im Herbst des folgenden Jahres drehen Ernst Scheidegger und
Peter Münger einen Dokumentarfilm über Giacometti.' Dupin
stellt sich als Diskussionspartner und als Modell zur Verfügung.
Der Zuschauer wird Zeuge, «wie Giacometti in wenig mehr als
zwei Minuten das Bildnis Jacques Dupins auf die Leinwand»
setzt.” Insgesamt malt der Künstler während der Dreharbeiten
drei Bildnisse des Schriftstellers, spricht zu ihm aber vor allem
über den Vorgang, mit dem er das Blicken darzustellen versucht,
dessen Wiedergabe im Zentrum seiner Bemühungen dieser
Schaffensphase steht: «Seltsamerweise riskiert man, wenn man
das Auge genau wiedergibt, gerade das zu zerstören, was man
anstrebt, nämlich den Blick. [...] Ich gebe den Ort des Auges,
and statt der Pupille sehr oft nur einen senkrechten Strich. Was
nan anschaut, das ist die Augenhöhle... aber da beginnen die
”robleme. Sie sind übrigens der Grund, wieso ich weiterarbei-
te,»* Jede Begegnung mit dem anderen sei eine Blickbegeg-
nung,‘ sagt er ebenfalls zu Dupin, der zwei Jahre zuvor Giaco-
mettis Arbeit als «das leidenschaftliche Erkunden durch den
Blick» umschrieben hat.
Von der dialogischen Struktur des Blickwechsels, der sich in den
ınzähligen suchenden und immer wieder insistierenden Linien
nederschlägt, lebt auch dieses Bildnis. Es macht deutlich, dass
für Giacometti sein Gegenüber nicht «Material» ist, sondern der
<aum fassbare, nicht festlegbare lebendige Mensch: «Seit jeher
waren die Skulptur und die Malerei oder die Zeichnung für mich
Mittel, um mir Klarheit zu verschaffen darüber, wie ich die äus-
sere Wirklichkeit sehe, und besonders auch wie ich ein Gesicht
ınd das mensehliche Wesen als ganzes sehe, oder einfacher aus-
gedrückt wie ich Meinesgleichen sehe und vor allem die, die mir
aus diesem oder jenem Grund am nächsten sind.»® M.S
Scheidegger, Ernst; Münger, Peter; Dupin, Jacques: Alberto Giacometti.
Farbfilm, 16 und 35 mm, 29 Min. Scheidegger- und Rialto-Verleih, Zürich, 1966
Hohl, Reinhold: Alberto Giacometti. Stuttgart, 1971, 5. 174
Zit. nach Hohl, wie Anm. 2, S. 170.
Ebd,
Dupin, Jacques: Alberto Giacometti. Paris, 1962. In: Louis Aragon u.a.: Wege
zu Giacometti. München, 1987, S. 268.
Alberto Giacometti im Gespräch mit Peter Selz. In: New Images of Man.
Ausst:-Kat. Museum of Modern Art, New York, 1959. Deutsch in: Transform.
BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, Ausst;-Kat. Kunstmuseum und Kunsthalle
Basel, 1992, S. 109
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