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Wassily Kandinsky (1866-1944)
Kleine Welten IV. 1922
Farblithographie
26,7 X 25,6 cm
34 X 29 cm
Bez. im Druck u. l.: K, u. r: Kandinsky
Roethel 167
LSK 72.05
Der Monatsbericht der graphischen Druckerei des Staatlichen
Bauhauses vom Oktober 1922 vermeldet, dass «hauptsáchlich
an Kandinskys Mappenwerk Kleine Welten gearbeitet worden»
sei. Die vom Berliner Propyláen-Verlag in Auftrag gegebene
Graphikfolge vereinigt in 12 Bláttern Holzschnitte, Kaltnadel-
stiche und Lithographien, umfasst somit die drei Haupttechni-
ken der Druckkunst: Hoch-, Tief- und Flachdruck.
Die hier vorgestellte Lithographie ist in den Farben Gelb, Grün,
Violett und Schwarz gedruckt. Vielfáltige geometrische und
freie Formengebilde fügen sich zu einer gleichzeitig spannungs-
reichen und harmonisch austarierten Komposition, die durch
einen grossen schwarzen Ring optischen Halt vor dem Raum
evozierenden, hellen Bildgrund gewinnt. Ein sich nach oben
verjüngendes, dreifarbiges Strahlenbündel bricht als aktives
Element von dem beharrenden Rund los; seinem Bewegungs-
drang in die rechte obere Ecke wirkt aber eine im rechten Win-
kel dazu gestellte weitere Diagonale entgegen: diesmal nicht
farbig, sondern von einem Schachbrettmuster belebt. Eine wei-
tere Diagonale in Form einer langen dünnen Linie gesellt sich
links dazu. Die gelbe rautenfórmige Fláche im Bildzentrum fin-
det Widerspruch im kleinen schwarzen Ring mit den lánglichen
Auswüchsen; Zickzackbànder antworten Wellenlinien; Dreiecke
begegnen Kreisen und linsenfórmigen Gebilden: Die Graphik
lebt vom Kontrast der Formen und Farben. Von allen Blättern
der Serie nimmt die kühle Eleganz dieser Lithographie viel-
leicht am entschiedensten das sachliche Formenvokabular der
folgenden Bauhausjahre vorweg. Gleichzeitig verarbeitet das
Blatt Kompositionsmuster und Motive der im Dialog mit den
Konstruktivisten in Russland entstandenen Werke: Baut sich um
1919 bis 1921 das Bildgefüge der Gemálde oft auf einer ovalen,
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kreis- oder rautenfórmigen Fláche auf und lásst so den Eindruck
einer drehbaren Komposition entstehen, so verstárkt Kandinsky
diesen Effekt auf dem nebenstehenden Blatt, indem er alles Ráum-
lich-Illusionistische weglásst. Einzelne Elemente sind Form-
findungen seiner russischen Künstlerkollegen, so das Trapezoid
im Zentrum, ein Emblem suprematistischer Kunst, das sich hàu-
fig auf Gemálden von Ljubow Popowa, Kasimir Malewitsch und
Iwan Puni findet; andere, etwa den gestreiften Querbalken und
das Schachbrettmuster, hat Kandinsky selbst im Bild Auf Weiss
von 1920 erstmals angewandt. Im Unterschied zu den Arbeiten
der genannten Künstler finden sich in den Kleinen Welten noch
Anklànge an Gegenstándliches: So scheint der kleinere Ring mit
den eigenartigen Auswüchsen ein Relikt der um einen runden
«Hügel» angeordneten phantastischen Architektur zu sein, wie
der Vergleich mit dem Gemälde Der Rote Platz und der zu-
gehórigen Studie nahelegt.*
Andere Elemente lassen sich bis in die Zeit des Blauen Reiters
zurückverfolgen, so die linsen- oder sichelfórmigen Gebilde, als
deren Vorláufer die Boote in den Gemálden der Münchner Jahre
anzusprechen sind. Die mit zunehmender Abstraktion einherge-
hende Verrátselung der Bildinhalte war ebenso Ausdruck von
Kandinskys Bestreben, den geheimnisvollen «inneren Klang»
eines Kunstwerks zu wecken, wie sein Hang zur Zahlenmystik.
Dieser Hang spricht beispielsweise aus dem Vorspann der Gra-
phikmappe : «Die Kleinen Welten klingen aus 12 Bláttern heraus.
4 dieser Blätter sind mit Hilfe des Steins entstanden, / 4 — des
Holzes, / 4 — des Kupfers. / 4 x 3 = 12. / [...] In 6 Fállen begnüg-
ten sich die Kleinen Welten mit schwarzem Strich oder schwar-
zem Fleck. Die 6 anderen brauchten den Klang auch anderer Far-
ben. /6 + 6 = 12. In allen 12 Fällen bekamen die Kleinen Welten
im Strich und Fleck die ihnen notwendige Sprache.» PM.
Roethel, Hans Konrad: Kandinsky. Das graphische Werk. Köln, 1970, S. 452. Eine
Einführung zur Graphikmappe bietet: Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky.
Kleine Welten. Stuttgart, 1962. (Werkmonographien zur Bildenden Kunst, Nr. 78).
? Poling, Clark V.: Kandinsky in Russland und am Bauhaus 1915-1933. Ausst.-Kat.
Kunsthaus Zürich, 1984, S. 15, Abb. 9 u. 11, Kat. Nrn. 17 u. 33.
? Ebd., Abb. 29.
Ebd., Abb. 6, Kat. Nr. 15.
* Roethel, wie Anm. 1, S. 452.