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Alexej von Jawlensky (1864-1941)
Variation: Spätsommer Nachmittag, um 1917
Öl auf Papier mit Leinwandstruktur
35,8 X 27,4 cm
Bez. uw. 1: AJ
Jawlensky 1992, 951
LSK 85.01
Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges zieht Jawlensky nach
St. Prex an den Genfer See, da er als russischer Staatsbürger
nicht lánger in Deutschland bleiben kann. Das demütigende Er-
lebnis der fluchtartigen Abreise, der Verlust seines Münchner
Freundeskreises, die Sorge um den Ausgang des Krieges lósen
bei ihm eine für das spátere Schaffen folgenreiche Neuorientie-
rung aus: «Meine Seele war durch vieles Leiden anders gewor-
den, und das verlangte andere Formen und Farben zu finden, um
das auszudrücken, was meine Seele bewegte. Ich fing an, meine
sogenannten «Variationen über ein landschaftliches Thema», die
ich vom Fenster sah, zu malen. Und das waren ein paar Báume,
der Weg und der Himmel. [...] Jeden Tag malte ich diese farbigen
Variationen, immer inspiriert von der jeweiligen Naturstimmung
zusammen mit meinem Geist.»' Das Zitat macht deutlich, dass
die Landschaft in diesen «Variationen» primár Inspirationsquel-
le zu «inneren» Bildern ist. Ihr Eigenwert, am Beginn der Serie
noch ausgeprägt, tritt schon bald zugunsten einer subjektiven
Schau zurück. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, wenn das
Blatt der Liechtensteinischen Staatlichen Kunstsammlung mit
dem vom Sohn des Malers gegebenen Titel Variation: Spätsom-
mer Nachmittag noch an die Situation vor dem Atelierfenster
von St. Prex erinnert obwohl es vermutlich erst nach der 1917
erfolgten Übersiedlung nach Zürich entstanden ist. Der Ver-
gleich mit den 1914 und 1915 gemalten «Variationen» lásst das
Naturvorbild noch in einzelnen Elementen erahnen: Kastanie
und Tannen als übereinander stehende längliche Formen im lin-
ken Bilddrittel, zwei Pappeln als parallele Senkrechte oben
rechts, der in den dazwischen verlaufenden Weg hineinragende
Baum als liegende grün-gelbe Ovalform. Zwischen 1914 und
1921 sind über 250 dieser «Variationen über ein landschaftliches
130
Thema» entstanden. Von den ersten Fassungen abgesehen, lässt
sich kaum eine Entwicklung ausmachen, etwa im Sinne einer
Straffung der Komposition, zunehmender Abstraktion oder
farblicher Verdichtung. Jawlensky ist nicht mehr auf der Suche
nach einem neuen künstlerischen Vokabular wie zur Zeit des
Blauen Reiters. Das Ausloten der gefundenen Mittel ist nun sein
Anliegen. Dabei erweist sich gerade die Begrenzung, die sich
der Künstler mit dem Fensterausschnitt auferlegt, als sinnfällig,
denn erst durch diesen Rahmen wird die Fülle der Variations-
möglichkeiten sichtbar.
Man hat die Variationen mit den wenige Jahre zuvor entstande-
nen Fenêtres von Robert Delaunay verglichen. Doch Delaunays
Serie der Fensterbilder zeichnet sich im Unterschied zu
Jawlenskys Arbeiten durch die folgerichtige Entwicklung hin
zur Abstraktion aus, von der der Künstler um 1913 wieder zur
Gegenstandswelt zurückkehrt. Letztlich dem Impressionismus
verpflichtet, weist Delaunay der lichthaltigen Farbe die Haupt-
rolle in diesem Auflósungsprozess zu. Deren Komplementàr-
kontraste und Dissonanzen versetzen die Fláche in ráumliche
Vibration. Bei Jawlensky dagegen treten «Farblicht» und «Farb-
raum» hinter den Eigenwert der Farbe zurück, die sich im vor-
gegebenen Kompositionsmuster immer wieder aufs neue entfal-
tet. Hatte er in den Münchner Jahren die Farb- und Form-
experimente noch in den klassischen Gattungen Landschaft,
Portrát und Stilleben realisiert, so huldigt er in den Variationen,
dann in Mystischen Kópfen, Heilandsgesichten, Abstrakten Kóp-
fen und in den spáten Meditationen dem seriellen Prinzip mit of-
fenem Ende, das für viele Künstler des 20. Jahrhunderts Grund-
lage ihres Schaffens werden sollte. PM.
' Zit. nach: Alexej Jawlensky, 1864-1941. Hrsg. Armin Zweite. Ausst.-Kat. Städtische
Galerie im Lenbachhaus München; Staatliche Kunsthalle Baden-Baden. München,
1983, S. 228.
? Alexej von Jawlensky. Catalogue Raisonné of the Oil Paintings. Vol. Two
1914—1933. London, 1992, S. 235, Nr. 95.
? Schmidt, Katharina: Das Prinzip der offenen Serie. In: Alexej Jawlensky.
Ausst.-Kat., wie Anm. 1, S. 88.