Die Liechtensteinische Staatliche Kunstsammlung
Georg Malin
[n den Bereichen des Kunstsammelns und im Museums-
wesen brachte das 19. Jahrhundert grosse Veränderungen.
Waren in der Spätrenaissance und im Barock persönliche
Neigungen und subjektiver Geschmack des Adels und
des Klerus entscheidend für die Aufnahme von Werken in
die Sammlungen, so trat im 19. Jahrhundert bei den öf-
fentlichen Sammlungen und Museen eine radikale Wende
3zin. Die meisten Sammlungen des hohen Adels gingen
im Zuge der Abschaffung der Monarchien in staatlichen
Besitz über, In die neuen Institutionen zog der Wissen-
schaftsbetrieb der Kunstgeschichte ein. Man versuchte
nun, blosse Kennerschaft mit objektiven wissenschaftli-
z;hen Kriterien zu prüfen. Dazu kam im Laufe der Zeit,
begünstigt vom Fortschritt der Naturwissenschaften, der
Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen in den
kunstgeschichtlichen Hilfswissenschaften. Der Standard
dieser Disziplinen hat zum Teil ein beachtliches Niveau
erreicht. Beinahe gegenläufig zu dieser Entwicklung
bildete sich persönliche Kennerschaft im Andrang der
vielen Schulen, Richtungen und Eklektizismen zurück.
Markt und Handel beherrschen nur zu oft die Szene.
Das kulturelle Umfeld
Diese Entwicklung berührte im 19. und in der ersten Hälf-
te unseres Jahrhunderts den Kleinstaat Liechtenstein
nicht: Es gab in Liechtenstein keine öffentliche und keine
grössere private Kunstsammlung. Die weltberühmten
Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein waren seit
1807 im Gartenpalais in der Rossau in Wien unterge-
bracht. Erst während und nach dem Zweiten Weltkrieg
gelangten die wichtigsten Bestände der Sammlungen
nach Vaduz — seit 1938 Sitz des Familienoberhauptes des
Fürstenhauses von Liechtenstein und zugleich Residenz
des Staatsoberhauptes.! Der Transfer von Sammelgut des
Hauses Liechtenstein nach Vaduz kam nicht ganz uner-
wartet und unvorbereitet. Die beiden Weltkriege und
deren Folgen begünstigten und erforderten die Verlegung
des Wohnsitzes des Fürsten von Wien nach Vaduz und
damit auch von dessen Sammlungen. In den zwanziger
Jahren gab es vereinzelte Stimmen, die engagiert eine
Präsentation von Kunstschätzen aus den Sammlungen
des Fürsten von Liechtenstein in Vaduz befürworteten.
m Sommer 1919 wurde in Liechtenstein über «die Verle-
zung der Fürstlich Liechtensteinischen Gemäldegalerie
aach Vaduz» gesprochen. Es bestünden aber erhebliche
technische Schwierigkeiten, denn man müsste vorerst
einen «Palast zur Unterbringung der gesamten Galerie»
»auen; aber schon ein Teil der Sammlung, in Vaduz aus-
zestellt, «würde den Fremdenverkehr in unserem Länd-
chen gewaltig beleben».* Und kurze Zeit danach schrieb
Prinz Eduard von Liechtenstein an die Regierung in
Vaduz, man möge in der Quadretscha* ein Hotel zur För-
derung des Tourismus bauen und eine «allmähliche Auf-
stellung einer Gemäldegalerie aus fürstlichem Besitz in
einem eigens zu errichtenden Gebäude» planen.“ Allein
die wirtschaftliche Krise um 1930 und die Ereignisse vor
ınd während des Zweiten Weltkrieges nahmen derartigen
Vorhaben jede Realitätsnähe.
Das Projekt Fürstliche Gemäldegalerie oder Kunsthaus
wurde vorerst nicht weiter verfolgt. Ein anderes Projekt
gewann Vorrang: Während der Jahre 1903 bis 1914 fan-
den im ruinösen Schloss Vaduz aufwendige Renovatio-
nen statt. In diesem Zusammenhang musste für das wie-
derhergestellte Schloss ein Nutzungskonzept erarbeitet
werden. Waren vorerst von der Bauherrschaft schwer-
punktmässig die Errichtung von Wohn- und Repräsenta-
‘jonsräumen vorgesehen, so wurde während der langen
Bauzeit in das Wohnschloss mehr und mehr ein Mu-
seumsbetrieb eingeplant. Es entstand eine Art Zwitter