Franz Marc (1880-1916)
Vier Rehe in Landschaft, um 1911/12
Fettkreide
17 X 21,8 cm
LSK 71.19
Vier Rehe beherrschen den durch gerundete und dreieckige For-
nen nur knapp als steinigen Waldboden kenntlich gemachten
_andschaftsausschnitt. Die Tiere sind in ihren Haltungen auf
sinander bezogen und rhythmisieren in Bewegung und Gegen-
bewegung die Fläche: Das sich umwendende Reh links oben
Findet seine Entsprechung in der sich zum Rund schliessenden
Haltung des liegenden Tieres in der gegenüberliegenden Ecke;
in der anderen Diagonalrichtung stehen sich die beiden äsenden
zehe spiegelbildlich gegenüber. Auch in den länglichen Formen
unten links bzw. oben rechts, wohl als Sträucher oder Felsblöcke
zu deuten, kommt das sorgfältige Ausbalancieren der Kom-
position zum Ausdruck. Die Symmetrien binden die Darstellung
an die Fläche, ein Effekt, der durch das Übereinander — statt
Tintereinander — der Rehe und durch den weitgehenden Ver-
zicht auf raumbildende Elemente noch betont wird. Die mit
knappem, kräftigem Strich der Fettkreide erfassten Tiere und
_andschaftselemente verraten den Einfluss des Frühkubismus.
‚m Unterschied zu den auf das formale Experiment ausgerichte-
ten Bestrebungen von Picasso und Braque zielt Marcs kubisti-
sche Reduktion jedoch auf eine Steigerung der inhaltlichen Aus-
sage. Verfolgt man die Entwicklung des Rehmotivs im (Euvre
Marcs, so zeigt sich, parallel zur zunehmenden Abstraktion vom
Naturvorbild, eine Tendenz zur Entstofflichung und Vergeisti-
zung. Kommt in den von ornamentalen Konturen umschlosse-
ıen Flächen der Tierleiber der Grossen Rehzeichnung I (1908),
ıngeregt vom Vorbild Gauguins und der Nabis, Marcs Suche
ıach formalen Gesetzmässigkeiten zum Ausdruck, so verfestigt
sich das Gefüge auf dem Blatt der Liechtensteinischen Staatli-
chen Kunstsammlung bei weitergehendem Verzicht auf Detail-
treue, ohne allerdings die Integrität des Gegenständlichen auf-
zugeben. Die Zeichnung ist deshalb noch vor der Entstehung
des Gemäldes Reh im Klostergarten (1912) anzusetzen, in wel-
chem Marc, Anregungen des Futurismus, des analytischen Ku-
bismus und des Orphismus verarbeitend, das Tier in eine pris-
matisch aufgelöste Waldlandschaft setzt.?
Mit der Reduktion auf formaler Ebene gewinnt die inhaltliche
Aussage an Bedeutung. Die Darstellung der äsenden Rehe wird
zum Gileichnis für das harmonische Eingebundensein der Krea-
tur in die Gesetze der Natur. Mit zunehmender Abstraktion vom
Naturvorbild sucht Marc die innere Wahrheit der Dinge zu er-
gründen und sich dem Wesen der Tiere zu nähern. Der Künstler
hielt seit 1913 selbst zwei Rehe, um sie aus der Nähe studieren
zu können. Trotz gegenteiligem Bemühen, wie die folgenden
Notizen Marcs belegen, bleibt seine Tierwelt letztlich doch ein
anthropomorpher Spiegel seines künstlerischen Ichs: «Wie sieht
ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie
armselig, seelenlos ist unsere Konvention, Tiere in eine Land-
schaft zu setzen, die unseren Augen zugehört, statt uns in die
Seele des Tieres zu versenken, um dessen Bilderkreis zu erra-
ten.[...] Was hat das Reh mit dem Weltbild zu tun, das wir sehen?
Hat es irgendwelchen vernünftigen oder gar künstlerischen Sinn,
das Reh zu malen, wie es unserer Netzhaut erscheint oder in
kubistischer Form, weil wir die Welt kubistisch fühlen? Wer sagt
mir, dass das Reh die Welt kubistisch fühlt; es fühlt sie als «Reh»,
die Landschaft muss also «Reh; sein [...]. Ich kann ein Bild
malen: das Reh. Pisanello hat solche gemalt. Ich kann aber auch
ein Bild malen wollen: <das Reh fühlt». Wie unendlich feinere
Sinne muss ein Maler haben, das zu malen».} PM.
Lankheit, Klaus: Franz Marc. Katalog der Werke. Köln, 1970, Nr. 358.
Ebd., Nr. 187.
’ Lankheit, Klaus: Franz Marc. Schriften. Köln, 1978, S. 99f.