George Grosz (1893-1959)
Strassenarbeiter in Haarlem, 1933
Aquarell über Bleistift
ca. 63 X 43,5 cm
66,9 X 48,5 cm
Bez, u. r.: GROSZ 1933
LSK 80.08
Das Blatt Strassenarbeiter in Haarlem gehört vermutlich zu
jenen 60 grossformatigen Aquarellen, die George Grosz kurz
nach seiner Übersiedlung in die USA malt.' Im Januar 1933,
wenige Tage vor Hitlers Wahl zum Reichskanzler, trifft er in
New York ein: Sein lang gehegter «Great American Dream» geht
in Erfüllung. Auch ist er wahrscheinlich nur knapp dem Zugriff
des NS-Regimes entgangen. Die Weimarer Republik sagt zwar
erst 1932 mit aller Offenheit dem «Kulturbolschewismus» den
Kampf an. Doch sieht sich Grosz, der seinen Malpinsel und Zei-
chenstift einem Seziermesser gleich gegen das Militär oder die
Justiz richtet und — klar Partei ergreifend — in Aquarellen wie
Nieder mit Liebknecht von 1919 seine Kunst der politischen Ge-
genkraft leiht, bereits viel früher mit massiven Attacken von
rechts konfrontiert.?
In New York unterrichtet Grosz an der Art Students League. Um
in der verbleibenden Zeit das Tempo der ihn faszinierenden
Stadt einzufangen, kommt ihm die der Aquarelltechnik inhären-
te, rasche Arbeitsweise entgegen: «Nachdem ich abends von
meiner Unterrichtsklasse heimgekehrt war, liess ich die Aqua-
rellfarben nur so über das Papier strömen, um festzuhalten, was
mir tagsüber in der Stadt aufgegangen war. Die Stadt war gela-
den mit Eindrücken, und ich brannte vor Schaulust. [...] — ich
war erfüllt von Licht und Farben und Freude.»* Der 40jährige
Grosz betrachtet die Auswanderung als Chance für ein «neues
«amerikanisches» Leben».“ Neben neuen Impulsen erhofft er
sich materiellen Erfolg. Bemüht, «amerikanischer Illustrator»>
zu werden, versucht er mit seiner künstlerischen und politischen
Vergangenheit bis zur Selbstverleugnung zu brechen: «Ich be-
schloss, alles hinter mir zu lassen und zu vergessen, wer und was
ich gewesen war.»® Er beugt sich willig der sanften Gewalt des
«keep smiling» und dem «not too bitter, Mister Grosz!»,’ er
weicht jedem Stimulans seines kritischen Bewusstseins aus. Im
Gegensatz etwa zu Brecht entscheidet er sich für den Schein und
gegen die Realität. Das vorliegende Aquarell mag ein Beispiel
dafür sein. Die expressive Kraft und Grellheit der Berliner Blät-
ter weicht einer gemässigten, harmonischen Tonalität, die vor-
mals scharfen Konturen verfliessen. Aus der Darstellung des
Menschen ist alles Karikierende, aber auch jedes Anzeichen
siner sozialkrıtischen Stellungnahme verschwunden. Wie der
lässig posierende schwarze Arbeiter in der verschneiten Strasse
keinen festen Halt zu finden scheint, so droht im Sinne der Ver-
klärung der Wirklichkeit die Darstellung selbst ins Idyllische
umzukippen; die Harmonie schlägt in Harmlosigkeit um.
Ein Zeichen der Abschottung gegenüber der Realität und ihrem
Konfliktpotential liefert — neben der Darstellung der «viele[n]
yunte[n] Neger»* als pittoreske Randgruppe — auch Grosz’ Ein-
schätzung der Schwarzen als «untergeordnete Talente». Seine
Feststellung, der Schwarze sei «gesamt betrachtet, eine Stufe
tiefer» als der «zivilisierte Weisse», überrascht angesichts seiner
eigenen Bilder dieses «zivilisierten Weissen». Erklärbar ist Grosz’
von Entpolitisierung und Kommerzialisierung geprägte künstle-
rische Praxis teils mit dem Verlust des Glaubens an die Wirk-
samkeit ästhetischen Einspruchs gegen soziale Missstände. Zur
Resignation und zum Rückzug gesellt sich bei Grosz aber auch
die Faszination für das «Land der unbegrenzten Möglichkei-
ten», das mit den Dollars der Wirtschaftskredite in den zwanzi-
ger Jahren zugleich Lebensart und Weltanschauung über den
«alten Kontinent» ausgeschüttet hat. M.S.
Hess, Hans: George Grosz. Dresden, 1982, 5.182. Hess bezieht sich auf den
Brief von Grosz aus New York an Herbert Fiedler vom 13.6.1933. Der Brief ist, wie
leider viele andere, in den publizierten Briefen Grosz’ nur auszugsweise abgedruckt
Die Angabe konnte deshalb nicht überprüft werden. Vgl. dazu George Grosz:
Briefe 1913-1959. Hrsg. Herbert Knust. Hamburg, 1979, 5.177 £f. Grosz berichtet in
anderen Briefen dieser Zeit wiederholt von der Arbeit an Aquarellen.
Grosz wird 1920 wegen «Beleidigung der Reichswehr», 1924 wegen «Verbreitung
anzüchtiger Abbildungen» und 1932 schliesslich wegen «Gotteslästerung» verurteilt
Srosz, George: Ein kleines Ja und ein grosses Nein. Sein Leben von ihm selbst
erzählt. Reinbek bei Hamburg, 1974, S. 275.
Ebd., S. 232.
Ebd., S. 235.
Ebd., S. 232.
Vgl. ebd., S. 224.
Die folgenden Zitate stammen aus Briefen an Wieland Herzfelde vom 23.8.1932
.ınd 6,6. 1933. In: George Grosz‘ Briefe 1913-1959. wie Anm. 1, S. 160 u.174.