Max Beckmann (1884-1950)
Selbstbildnis von vorn, im Hintergrund Hausgiebel, 1918
Kaltnadel
30,8 X 25,5 cm
53,5 X 37,8 cm
Bez. u. r.: Beckmann
Gallwitz 96; Glaser 106; Hofmaier 125/I1/B
LSK 69.12
Kaum ein deutscher Maler des 20. Jahrhunderts hat sich so häufig
selbst dargestellt wie Max Beckmann: Das gemalte (Euvre um-
fasst 39 Selbstbildnisse im engeren Sinn; zählt man die Assi-
stenzbildnisse und Rollenporträts mythologischer und christlicher
Thematik sowie der Karnevals-, Zirkus- und Variete-Welt dazu,
sind es gar 66 Bilder. Dazu kommen noch 20 graphische Blätter
und eine unbekannte Zahl Zeichnungen.‘ Die Vielzahl der Selbst-
porträts scheint ein spezifisch nordländisches Phänomen zu sein.
So verdanken wir die eindringlichsten Selbstbildnisse seit der Re-
naissance Künstlern, die deutschsprachigen oder sprachverwand-
ten Ländern angehören (Dürer, Rembrandt, van Gogh, Hodler u.
a.). Hier sind es besonders die Expressionisten (Kokoschka,
Schiele, Kirchner, Meidner u. a.) und Maler der Neuen Sachlich-
keit (Dix, Schad, Schrimpf u. a.), deren Leiden an der Welt sich im
Selbstbildnis formuliert. Der Hang dieser Künstler zu grübleri-
schen Selbstbefragungen gilt zwar auch für Beckmann, doch
ebenso ausgeprägt ist bei ihm das Bedürfnis, in eine Rolle zu
schlüpfen, um auf Stellung und Funktion des Künstlers in der Ge-
sellschaft zu verweisen: besonders deutlich im Selbstbildnis mit
Glaskugel (1936), wo sich Beckmann als Seher darstellt, oder in
Werken mit Elementen der Christusikonographie, in denen sich
die Vorstellung vom Künstler als ein sich der Menschheit Opfern-
der manifestiert.” Neben den expliziten Rollenporträts in einzel-
oder mehrfigurigen Kompositionen, in denen Beckmann als Chri-
stus, König, Clown, Schausteller oder Dichter auftritt, existieren
zahlreiche Selbstbildnisse, in denen der Künstler einen ihm
gesellschaftlich fremden Typ darstellt. In solchen Werken verbin-
det Beckmann oft Gesellschaftskritik mit ironischer Distanz
zur eigenen Person: So präsentiert er sich im 1907 in Florenz
entstandenen Selbstbildnis mit blasiertem Blick und lässig ge-
1altener Zigarette als weltmännischer Dandy oder parodiert, wie
im Selbstbildnis vor rotem Vorhang (1923), den «Magnaten in
der Herrscherpose, [...] den grossen Künstler als Gesellschafts-
'öwen».* Eine ganz andere Person spricht aus der nebenstehen-
den Kaltnadelarbeit:* Anstelle von Verstellung oder Ironisierung
tritt hier die nüchterne Selbstbefragung, der sich der Künstler in
strenger Frontalität mit bohrendem, unerbittlichem Blick aus-
setzt. Ein formales Äquivalent zu den verschlossenen, ange-
spannten Gesichtszügen bilden die für die Kaltnadeltechnik ty-
pischen scharfkantigen Strichlagen. Die Konzentration auf das
eigene Ich lässt als einzigen Hinweis auf die Aussenwelt den
Blick auf einen Hausgiebel frei. Die bedrückende Enge des Bild-
raums, an dessen oberen Rand der Kopf stösst, kapselt die Figur
ab. Klaustrophobische Bildeinschnürungen sind auch an Mehr-
figurenbildern, insbesondere aus den unmittelbaren Nachkriegs-
jahren, zu beobachten. In solchen Bildern steht der Mangel an
Raum im metaphorischen Sinn für physische oder psychische
Unfreiheit, für die Fesselung an den eigenen hinfälligen Körper
oder an das Gegenüber. Beckmann hat das Kriegstrauma seit
seiner Entlassung im Jahre 1915 in mehreren düsteren Selbst-
bildnissen verarbeitet. Der Eindruck eines innerlich zerrissenen,
gehetzten Menschen, wie ihn noch das 1917 gemalte Selbstbild-
nis mit rotem Schal vermittelte, ist nun einer ruhigeren, indes
nicht minder pessimistischen Selbstanalyse gewichen.” PM
Zenser, Hildegard: Zu den-Selbstbildnissen 1915-1930. In: Max Beckmann. Retro-
spektive. Hrsg. Carla Schulz-Hoffmann u. Judith C. Weiss. München, 1984, S. 53.
Ygl. auch Busch, Günter: Einige Bemerkungen zu Beckmanns Selbstbildnissen. In‘
Vlax Beckmann. Seine Themen — Seine Zeit. Zum 100. Geburtstag des Künstlers.
Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen, 1984, o. 5. (S. 1 des Artikels). —- Die ausführlichsten
Würdigungen der Selbstbildnisse bieten: Erpel, Fritz: Max Beckmann. Leben im
Werk. Die Selbstbildnisse. Berlin, 1985, sowie Selz, Peter: Max Beckmann. The
Self-Portraits. New York, 1992.
Als indirekter Bezug auf Christus, etwa im Selbstbildnis als Clown (Göpel 211), wo
die vorgestreckte Hand die Wundmale zeigt, oder im Aquarell Odysseus und Sirene
ı Anlehnung an frühchristliche Sarkophagmotive, wo der antike Held als Präfigura
‚ion von Christus gedeutet ist (Buck, Matthias: Der erneuerte Mythos. Zu einigen
Selbstbildnissen von Max Beckmann. In: Max Beckmann. Selbstbildnisse. Ausst.-
Kat. Hamburger Kunsthalle, Hamburg; Staatsgalerie moderner Kunst, München.
Stuttgart, 1993, S. 29 £., Abb. 1).
Erpel, wie Anm. 1, S. 40.
Hofmaier, James: Max Beckmann. Catalogue raisonne of his Prints. Bern, 1990,
Bd. 1, Nr. 125/1V/B.
Göpel, Erhard u. Barbara: Max Beckmann — Katalog der Gemälde. Bern, 1976,
Nr. 194