Ernst Barlach (1870-1938)
Kindertod, 1919
=
S
Holzschnitt
24,2 X 36,2 cm
36 X 44,7 cm
Bez. u. 1.: 84/100, u. r.: E Barlach
Schult 157
LSK 69.01
Auf einem eigenhändigen Abzug des hier gezeigten Holz-
schnitts in Güstrower Privatbesitz notierte Barlach: «Diese Blät-
ter Kindergrab und Hundefängerin entstanden unter dem Druck
der Not-Zeit im Kriege und der Not nach dem Kriege.»' Im Kin-
dertod prangert Barlach das Leid an, das der Krieg den Un-
schuldigen, Frauen und Kindern, zugefügt hat. Eine vornüber-
gebeugte Frau mit von Trauer gezeichnetem Gesicht deckt das
Grab ihres Kindes mit Steinen zu. Die gebückte Haltung der
bildbeherrschenden Figur, «niedergedrückt» durch den nur
schmalen freien Streifen zwischen Rückenlinie und Bildrand, ist
hier anschauliche Formel des seelischen Schmerzes. Im linken
oberen Bildwinkel verkörpert eine schwangere Frau mit vor das
Gesicht geschlagenen Händen die zerstörte Hoffnung. Weiter
hinten steht auf einem Felsen eine Frau mit Kind in den Armen,
ähnlich einer Madonnenstatue. Rechts erkennt man unter einem
hölzernen Glockenstuhl ein Massengrab.
Dem Kindertod und der Hundefängerin schliessen sich weitere
‚m Jahre 1919 geschaffene Holzschnitte an, mit denen Barlach
die Qualen des Kriegs schonungslos offenlegt, Blätter, die auf
Käthe Kollwitz einen nachhaltigen Eindruck hinterliessen:* das
dem hier vorgestellten Holzschnitt verwandte Blatt Kniende
Frau mit sterbendem Kind sowie Die Vertriebenen und Kreuz-
und Sargräuber. Dazu gesellen sich die Holzschnitte Chrisfus in
Gethsemane und Mors Imperator (nach Apokalypse 6, V. 8), in
denen die Anklage in christliche Metaphern gekleidet ist.
Die pessimistische Schau ist das Resultat einer Läuterung. 1914
noch hatte Barlach den Krieg begrüsst — wie viele seiner Künst-
ler- und Schriftstellerkollegen, die von ihm einen Ausbruch aus
den erstarrten Strukturen des wilhelminischen Staates mit sei-
nem reaktionären Wertsystem erhofften.“ Sichtbarer Ausdruck
dieser verklärenden Optik ist Barlachs bekannte Plastik Der
Rächer, die als Lithographie unter dem Titel Der Heilige Krieg
in der von Paul Cassirer herausgegebenen Folge Kriegszeit er-
schien.” Zwei Jahre später hingegen personifiziert der Künstler
den Krieg in der Lithographie mit dem Titel Aus einem neuzeit-
lichen Totentanz als brutalen Schlächter.‘
In der pazifistischen Zeitschrift Der Bildermann — der Heraus:
geber Paul Cassirer war 1915 aus dem Kriegsdienst als Kriegs-
gegner zurückgekehrt — war ein anklägerisches Blatt wie die
Lithographie Anno Domini MCMXYVT Post Christum Natum'
willkommen: Der Teufel, der Christus auf einen Berg geführt
hat, zeigt mit hämischer Geste auf das mit zahllosen Kreuzen
übersäte Land, darunter die drei leeren Kreuze von Golgatha.
Christliche Motive und Themen sind von den Expressionisten
häufig als moralische Instanz in ihrer Kritik an der Gesellschaft
verwendet worden. Auch im Kindertod scheint ein religiöser
Bezug gegeben: Die madonnengleiche Mutter mit Kind — links
oben in der Himmelszone — erinnert an die Mutter Gottes, deren
Sohn im Opfertod alles menschliche Leid vorweggenommen
hat. Anders als die Brücke-Künstler zeigt sich Barlach an den
formalen Möglichkeiten der druckgraphischen Techniken wenig
interessiert. Das Hohleisen folgt den Konturen der Gegenstände,
ordnet sich diesen unter. So unterscheidet sich etwa der Druck
des Kindertods kaum von der entsprechenden Zeichnung. In der
Werkgruppe um den Kindertod hat sich Barlach des kontrastrei-
chen Holzschnitts bedient, um die Auswirkungen des Kriegs
möglichst direkt, ohne versöhnliche Zwischentöne, zu zeigen,
PM.
Ernst Barlach: Das graphische Werk. Bearb. v. Friedrich Schult. Hamburg, 1958.
Nr, 157.
Reutti, Kurt: Bemerkungen zu Ernst Barlachs Druckgraphik. In: Ernst Barlach,
Das druckgraphische Werk, Dore und Kurt Reutti-Stiftung. Sammlungskatalog der
Kunsthalle Bremen, 1968, S. 22.
Wie Anm. 1, Nrn. 160, 154, 158, 155, 156.
Siehe dazu Blume, Eugen: Expressionismus und Weltkrieg. In: Expressionisten. Die
Avantgarde in Deutschland 1905-1920. Ausst.-Kat. Nationalgalerie Berlin, 1986.
5.53-61.
Ernst Barlach. Werke und Werkentwürfe aus fünf Jahrzehnten. Ausst.-Kat. Altes
Museum Berlin, 1981, S. 64, Nr. 47
Wie Anm. 1, Nr. 78.
Ebd., Nr. 80.