Wilhelm Lehmbruck (1881-1919)
Kniende, gross, 1911
Kaltnadel
34,9 X 25 cm
50 X 31,8 cm
Bez. u. 1.: Kniende/gross, u. r.: W. Lehmbruck
Petermann 13
LSK 79.07
Der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck hat bei seiner Übersiedlung
nach Paris 1910 begonnen, sich intensiv mit der Technik der
Kaltnadel zu befassen. Sie blieb sein eigentliches Medium in der
Druckgraphik. Die zwischen 1915 und 1917 entstandenen Litho-
graphien mit Porträtköpfen bleiben peripher und werden nicht
weiter verfolgt. Dagegen entwickelt er die Kaltnadel zur Perfek-
tion, verleiht ihr den Aspekt der Zeichnung (was er übrigens mit
Matisse gemeinsam hat) und entwickelt sie unabhängig von sei-
aer Skulptur — obwohl sie zweifellos Bezugspunkte zu dieser
znthält. Neben dem Porträt ist das wesentliche Thema die Akt-
igur. Sie kehrt auch in seinen Graphiken wieder und skizziert,
was er in der Skulptur plastisch erarbeitet hat. Nicht weniger als
183 Kaltnadelarbeiten hat Lehmbruck bis zu seinem frühen Tod
im Jahre 1919 geschaffen. Sieht man von den Illustrationen
zu Macbeth ab, zeigen sie alle die gleichen formalen Elemente:
Mit sparsamsten Mitteln ist die Komposition behandelt. Zarte
Modellierung gibt dem Körper seine Plastizität, Linienwerk und
Fläche wirken mit- und zugleich gegeneinander. Es ist eine spi-
ituelle Kunst, die sich hier in einem äusserst sensiblen Strich
aiederschlägt. Das vorliegende Blatt verinnerlicht diesen Pro-
zess ebenso wie Lehmbrucks andere Graphiken. Es sind mehre-
re Zustände des Blattes bekannt. Auf einem Blatt ist auf der lin-
ken Seite die Silhouette eines Berges angedeutet.‘ Die Aktfigur
wirkt wie eine Bleistiftskizze. Sie zeigt Elemente des Unferti-
gen auf, als würde Lehmbruck auf der Zinkplatte spontan skiz-
zieren. Die Kaltnadelarbeiten sind meist auf Zinkplatten ge-
macht, weil es im Krieg kein Kupfer gab. Er korrigiert auf den
Platten, so dass kaum ein Blatt dem anderen vollkommen
gleicht. Es wurden auch nur drei bis vier Abzüge gemacht,
da die feine Nadelarbeit keine hohen Auflagen zuliess.? Eine
Auflagennumerierung durch den Künstler gibt es bei keinem
Blatt. Der Künstler reinigte die Platten meist auch nicht voll-
ständig und zeichnete auf die leicht verstaubte Metallplatte. Da-
durch entsteht der etwas «angeschmuddelte» Grundton,? der den
Hintergrund auf leise Art mitsprechen lässt. Dieser erhält Bewe-
gung, zittert, vibriert und unterstreicht den zeichnerischen Aspekt
des gedruckten Blattes. Betrachtet man die Aktfigur im Hin-
blick auf ihr Erscheinungsbild, so ist viel mehr angedeutet als
fest umrissen. Das abgewinkelte Bein ist im Verhältnis zum
Körper zu lang, die Hände sind nur zu erahnen. Auch bei ihnen
stimmen die Massverhältnisse nicht. Das Skizzenhafte schält
sich durch diese «Unfertigkeiten» heraus und verleiht der Kalt-
nadelarbeit eine Spontaneität, die den ganz persönlichen Cha-
rakter von Lehmbrucks druckgraphischem Werk ausmacht.
E.B.
Petermann, Erwin: Die Druckgraphik von Wilhelm Lehmbruck. Teufen, 1964,
Vr. 13; Cassirer, Paul: Wilhelm Lehmbruck. Berlin, 1920, Nr. 18
Petermann, wie Anm. 1, S. XIL
Bildhauergraphik des Wilhelm Lembruck Museums Duisburg. Kat. Duisburg, 1991
May]