Volltext: Bestandeskatalog

Edvard Munch (1863-1944) 
Das Mädchen und der Tod, 1895 
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Kaltnadel 
30,5 X 22 cm 
59,1 X 40,8 cm 
Bez. u. r.: E.Munch 1895 
Schiefler 3a/I 
LSK 77.05 
Edvard Munch wendet sich 1894 der Druckgraphik zu. Neben 
siner Lithographie entstehen in diesem Jahr Kaltnadelarbeiten, 
zu denen auch Das Mädchen und der Tod gehört. Die druckgra- 
phische Umsetzung des gleichnamigen, 1893 geschaffenen 
Gemäldes belegt Munchs rasches Erfassen der Radiertechnik 
wie auch der besonderen Wirkungsmöglichkeiten dieses Me 
diums, durch das er dem Thema neue Ausdrucksaspekte abzu- 
gewinnen vermag. Über die Akzentuierung und damit Klärung 
der Metaphorik gelangt er im Vergleich mit der malerischen Ver- 
sion zu einer zweifellos prägnanteren Formulierung. 
Das Thema «Eros und Tod» ist das Leitmotiv der Graphik Munchs 
in der Periode von 1894 bis etwa 1902. Im Blatt Das Mädchen 
und der Tod erhält es einen vom Geschlechterkampf des Fin de 
siecle stark gefärbten Aussagewert, der zugleich aber auch 
Munchs spezifische Sicht der Beziehung zwischen Mann und 
Frau in drastischer Zuspitzung erhellt. 
Die klare Linie trennt den ornamentalen Rahmen aus Samenfä- 
den und Embryonen — Munch wird ihn 1895 in der Lithographie 
Madonna erneut aufgreifen — vom zentralen Bildmotiv, welches 
im druckgraphischen Werk von Munch mehrfach auftaucht. 
Eingebunden ist es in den Themenkomplex der zum Lebensfries, 
Munchs «Dichtung über Leben, Liebe und Tod»,' gehörenden 
Bilder, wie Der Kuss, Madonna oder Die Frau in den drei Sta- 
dien. Im engeren Sinn steht das Motiv Werken wie Yampyr, Ge- 
fügelter Vampyr, Die Spinne oder Der Todeskuss nahe, in denen 
die Darstellung des Dämonischen der Frau in bemerkenswerter 
stilistischer Breite eine symbolische Verdichtung erfährt. Diese 
Arbeiten verraten eine bisweilen in Hass umschlagende Angst 
vor dem Weiblichen, die Munch mit August Strindberg teilt. Der 
Schriftsteller und der Maler begegnen sich in Berlin, wo Munch 
seit Ende 1892 lebt. «Sie waren Partner im Verhältnis zum Femi- 
ninum, beim Glase und in der Neurose»,” wie es Julius Meier: 
Graefe pointiert ausdrückt, der ebenfalls dem Kern der avant- 
gardistischen Boheme-Gruppe angehört, die sich im Berliner 
Lokal «Zum Schwarzen Ferkel» trifft. Über Munchs Gemälde 
Der Kuss schreibt Strindberg in der Revue blanche: «Die Ver- 
schmelzung zweier Wesen, deren kleineres im Begriff zu stehen 
scheint, das grössere zu verschlingen, wie es beim Ungeziefer, 
bei den Mikroben, den Vampiren und den Frauen üblich ist.»* 
Vor diesem Hintergrund erscheint es verfehlt, das Bild Das 
Mädchen und der Tod als «Sieg der Liebe über den Tod» zu 
interpretieren.‘ Vielmehr scheint der Kuss der Frau ein Todes- 
kuss zu sein. Unverkennbar greift hier Munch auf den aus der 
‘'konographischen Tradition des mittelalterlichen Totentanzes 
herausgelösten und gleichzeitig das erotische Moment stark be- 
tonenden Bildtypus «Der Tod und das Mädchen» zurück.* Die 
Bedeutungsinversion, die er daran vornimmt, klingt bereits im 
Titel an: Das Mädchen übernimmt die aktive Rolle. In der Kör- 
persprache der jungen Frau fehlt das Moment der Abwehr, Erge- 
benheit oder Angst vor dem Tod völlig. Mit ihrer furchtlosen, 
leidenschaftlichen Umarmung und ihrem sinnlichen, unversehr- 
ten Körper tritt sie als die Stärkere hervor. In der verkehrten 
Welt wird das Opfer des Todes zur Täterin. Der üppige Körper, 
den Munch von der Fragilität und dem schattenhaften Dasein 
des Gerippes..mit graphischen Mitteln wirkungsvoll abhebt, 
scheint im Augenblick der Vereinigung vampirhaft aufzublühen. 
Munch zeichnet mit dem Bild der fordernden Sexualität und 
Sinnlichkeit der vitalen Frau das Bild einer Femme fatale, an deı 
der Mann zugrunde geht. M.S 
Munch, Edvard, zit. nach: Edvard Munch 1863-1944. Ausst.-Kat. Museum 
Folkwang Essen, 1987; Kunsthaus Zürich, 1988, 0.5, 
Meier-Graefe, Julius: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Neuaufl. 
München, 1966, S, 689. 
Zit. nach: Lexikon des Symbolismus. München, 1977, S. 114. 
Messer, Thomas M.: Edvard Munch. Köln, 1976, 5. 75. 
Als einer der ersten Künstler schafft Niklaus Manuel Deutsch mit der Darstellung 
in seinem Berner Totentanz (ca, 1516-1520) und der Zeichnung Der Tod und das 
Mädchen (vermutlich 1517) diesen Bildtypus. Vgl. dazu Kaiser, Gert: Der tanzende 
Tod. Frankfurt a. M., 1983, S. 17. 
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