Volltext: Bestandeskatalog

Alfred Kubin (1877-1959) 
Trost (Oswald in «Gespenster» von Ibsen), um 1927, auch: Psychoanalyse 
Feder in Tusche, farbig laviert 
31,3 X 23,9 cm 
Bez. u. M. (Feder in Tusche): Kubin, u. 1.: Trost, darunter: 
Oswald in Gespenster v. Ibsen 
LSK 70.02 
Nach 1909 findet Alfred Kubin, dessen umfangreiches Schaffen 
mit ungewöhnlicher Ausschliesslichkeit die Möglichkeiten der 
Graphik auslotet, in der Federzeichnung das adäquate Aus- 
drucksmittel. Vor allem seit Mitte der zwanziger Jahre überzie- 
hen dichte Liniennetze und Schraffuren vielschichtig seine Blät- 
ter und verweben Bezüge zwischen Menschen, Dingen, Gegen- 
wart und Vergangenheit. Die Zeichnung 7rost gehört zu dieser 
Werkphase.' 
Die Niederschrift seines 1909 erschienenen Romans Die andere 
Seite — laut Kubin durch den Tod des Vaters ausgelöst — wirkt 
sich nicht nur formal, sondern auch in der Wahl der Themen aus. 
Die Zeichnung 7/ost verdeutlicht jedoch, dass die duale Struktur 
des Frühwerks im späteren Schaffen des Künstlers erhalten 
bleibt: Die objektivierte künstlerische Gestaltung behält eine 
Schicht, in der als Ausdruck der obsessiven Selbstreflexion und 
des existentiell motivierten Darstellungszwangs ein oft uner- 
wartet konkreter Kommentar zu Kubins eigener Biographie ein- 
gelagert ist. 
Die verschiedenen Variationen des Motivs tragen auch den Titel 
Psychoanalyse. Die Bildidee basiert offensichtlich auf Ibsens 
1881 verfasstem Drama. Unter dem Schriftzug «Trost» erscheint 
im vorliegenden Blatt ebenfalls flüchtig ausradiert: «Oswald in 
«Gespenster v. Ibsen». Die Änderung des Titels folgt dem zeich- 
nerischen Bestreben, die Bildidee präziser zu fassen, und macht 
klar, wie fliessend die Grenze zwischen Illustration und auto- 
nomer Zeichnung bei Kubin sein kann. Der spannungsreiche 
Kontext, den die Titel erzeugen, erschliesst Dimensionen, die 
aber über das rein Illustrative hinausweisen. 
Formal entwickelt Ibsen die Handlung als retrospektive Analyse 
und Neuformulierung des Vergangenen, die dramaturgisch an 
Sophokles' König Ödipus anknüpft und paradigmatisch das 
psychoanalytische Verfahren vorwegnimmt. Kubins Darstellung 
greift diese Form auf. Sie stellt ein Ereignis dar, das der Prota- 
gonist des Dramas, der Künstler Oswald Alving, seiner Mutter 
arzählt: Nach einem Anfall erfährt er von seinem Arzt, dass er 
an «Gehirnerweichung» leidet. Kubin verbindet das Berichtete 
mit Oswalds Zusammenbruch, der dessen Demenz Eeinleitet: 
«Oswald (scheint im Stuhl zusammenzuschrumpfen; alle Mus- 
keln werden schlaff; sein Gesicht ist ausdruckslos, die Augen 
starren stumpf).»” 
Kubin fokussiert die Darstellung ganz auf das Leiden Oswalds. 
Oswalds Kopf ist Zentrum und hellste Stelle des zur summari- 
schen Dunkelzone sich auflösenden Raums. In der Betonung der 
Senkrechten lastet der hohe Spiegel als symbolhaftes Zeichen 
der Reflexion und Introspektion schwer auf dem Körper des jun- 
gen Mannes. Oswald glaubt, seine Krankheit selbst verschuldet 
zu haben, bevor er erfährt, dass sie das Erbe des geschlechts- 
kranken Vaters ist. Diese fatale Rolle des Vaters, verdichtet im 
zentralen Satz «Die Sünden der Väter werden heimgesucht an 
den Kindern», mag möglicherweise für Kubin den Bezug zum 
eigenen traumatischen Verhältnis zu seinem Vater erklären: Es 
prägt entscheidend sein Leben und Schaffen. Erkennt der Künst- 
ler in der Psychoanalyse die tröstliche Möglichkeit, die Ver- 
gangenheit für sich erträglich zu machen? Die Traumdeutung 
Freuds liest er früh und intensiv.“ Er reagiert mit Zurückhaltung. 
Die Situation erscheint unauflösbar: Mit der Angst fürchtet der 
Künstler, auch seine Kreativität zu verlieren.‘ M.S. 
Die Titel Z7rost und Oswald in «Gespenster, v. Ibsen stammen sehr wahrscheinlich 
von Kubin selbst. Die Datierung bezieht sich auf die Variante Psychoanalyse in der 
Mappe Orbis Pictus (beendet 1927, erschienen 1930) und eine andere Variante Psy- 
choanalyse in der Zeitschrift Ulk, Jg. 59 (1930), Nr. 38. 
Ibsen, Henrik: Gespenster. Uraufgeführt 1882. Übertragen von Gerlach, H. E., Stutt- 
gart, S. 80, vgl. auch S. 54. Bei einer Variante Psychoanalyse kommt Wilfried Sei- 
pel zum irrtümlichen Schluss, der ältere Mann sei Oswald und die Sitzende eine 
«schlicht gekleidete Frau». Seipel, Wilfried: Alfred Kubin. Der Zeichner 1877-1959 
Wien/München, 1988, S. 201. 
Ibsen, wie Anm. 2, S. 54. 
Vgl. Briefe an Fritz von Herzmanovsky-Orlando, 7.10.1911 und 25.11.1914. In: 
Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Sämtliche Werke. Bd. VII, Der Briefwechsel mit 
Alfred Kubin, S. 70 u. 90. 
Gegenüber dem Pfarrer Alois Samhaber soll Kubin geäussert haben: «Sie wollen mi! 
meine Angst nehmen, aber die Angst ist ja mein Kapital.» In: Schmied, Wieland: 
Der Zeichner Alfred Kubin. Salzburg, 1967, S. 44.
	        

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.