Kat. Nr. 31
GIOVANNI GHISOLFT (1623-1683)
«RÖMISCHE RUINEN MIT DEN DREI SÄULEN
DES VESPASIAN-TEMPELS»
Leinwand; 48,9 X 66,2 cm
nv. Nr. G 214
Erworben: vor 1805
Die Ruinenlandschaften des gebürtigen Mailänders Giovanni
Chisolfi gehören zu den bedeutendsten Beispielen dieses
Genres im Italien des 17. Jahrhunderts und weisen vorbildhaft
voraus auf vergleichbare Werke anderer Künstler, wie etwa
Giovanni Paolo Panini oder Andrea Locatelli. Ghisolfis Oeuvre
wurzelt in einer Bildtradition, deren Anfänge mindestens in
das 15. Jahrhundert zurückreichen. Schon in der mittelalterli-
zhen Malerei, verstärkt jedoch in der Malerei der Renaissance
sestimmen, auf Grund des wiedererwachten Interesses an der
Antike, vereinzelt altertümliche Ruinen das Bildgefüge, insbe-
sondere bei Szenen biblischen Ursprungs. Zu einer Ausformung
dieser Thematik als eigenständige Bildgattung tragen im Ver-
lauf des 16. Jahrhunderts zahlreiche und weit verbreitete Stich-
werke italienischer Künstler mit Ansichten von Bauwerken des
antiken Rom bei. Auch Künstler aus dem Norden sind in Italien
maßgeblich an der Entwicklung der Ruinenlandschaft beteiligt,
vor allem im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert!. Kunst-
nistorisch-archäologisches Interesse im Sinne einer um exakte
Rekonstruktion bemühten Baugeschichte geht dabei häufig
Hand in Hand mit einer nicht selten romantisch gestimmten
Wertschätzung für die Zeugen glanzvoller, aber vergangener
Kulturepochen.
Die Kenntnis perspektivischer Bildgestaltung, seit den Anfän-
gen der Renaissance mit wissenschaftlicher Systematik vertieft,
sowie die darauf basierenden Leistungen der Quadraturmale-
rei®, später auch der Bühnenmalerei, waren dem Genre, das bis
zu einem gewissen Grad als deren künstlerische Fortentwick-
lung betrachtet werden kann, von großem Nutzen. Giovanni
Chisolfi war mit ihnen, schon durch den Architektenberuf sei-
nes Vaters, sicherlich bestens vertraut.
Detailliertes Wissen um Architektur und Bauornamentik be-
weist Ghisolfi, der 1650 langjährig nach Rom übersiedelte,
auch im vorliegenden Gemälde, Es zeigt, die Bildmitte beherr-
schend, drei korinthische Säulen der ehemals sechssäuligen
Vorhalle des Vespasian-Tempels*, die noch heute auf dem Kapi-
tol in Rom stehen. Auf schön verzierten Kapitellen ruhen, von
Vegetation überwuchert, Reste des kräftigen Gebälks, das
ebenso ruinös ist wie die umliegenden Gebäudeteile. Das
Gebälkstück im Vordergrund scheint zum selben Tempel
gehörig. Einer Bühne gleich, steht eine schlanke Männergestalt
in antiker Kleidung darauf, mit der rechten Hand auf ein eben-
falls ruinöses, schräg gegen das Postament einer Säule gelehn-
tes Relief deutend, das eine Opferszene darstellt. Zwei männli-
che Personen sind zu seiner Linken erkennbar. Während der eine
zu ihm emporschaut, betrachtet der andere aufmerksam das
Relief, und fast hat es den Anschein, als seien alle drei Personen
Teilnehmer an einem realen Opfergeschehen, so sehr sind
Mensch und Skulptur vom gleichen Raum, vom gleichen Licht
und gleicher Atmosphäre erfaßt. Hierher wenden eben auch die
beiden Männer links im Hintergrund ihre Aufmerksamkeit.
Busiri Vici deutet die schlank aufragende Gestalt in der Bild:
mitte, die eindrucks- und absichtsvoll von den Säulen der Tem-
pelvorhalle umrahmt wird, als predigenden Apostel. Tatsächlich
erinnert die Szene äußerst entfernt an die von Raffael entwor-
fene «Predigt des Heiligen Paulus»*. Doch gewinnt man
vorrangig den Eindruck, als gäben sich die Anwesenden eineı
stillen Betrachtung der Opferszene hin, die durchaus als
Ursache tieferen Nachsinnens über antiken Mythos und antike
Religion aus christlicher Sicht verstanden werden mag.
Die auch im Kolorit angelegte, pastoral beschauliche Grund-
stimmung des Bildes unterstreicht weniger die noch immeı
erkennbare Größe römischer Architektur als sichtbarer Aus-
druck imperialer Herrschaft. Vielmehr führt sie die unabwend-
bare Vergänglichkeit alles von menschlicher Hand Geschaffe-
nen durch die Zeit und nicht zuletzt durch den Menschen selbst
in geschichtlichem Handeln vor Augen. So bekundet Ghisolfi,
trotz detaillierter Architekturkenntnisse, kein archäologisches
Interesse an der römischen Ruinenwelt, sondern diese ist ihm
gleichsam Anlaß und Träger einer gefühlsbetonten Auseinan-
dersetzung mit dem eigenen kulturellen Erbe.
Die liechtensteinischen Galeriekataloge führen das Gemälde,
zusammen mit seinem Pendant (Kat. Nr. 32), durchgehend als
Werk des Giovanni Paolo Panini auf. Andrea Busiri Vici weist
es in seiner 1992 erschienenen Monographie erstmals Giovanni
Ghisolfi zu, allerdings auf der Grundlage einer Kopie, die 1833
von dem Maler und liechtensteinischen Galerieadjunkt Leopold
Fertbauer hergestellt wurde* und in der Monographie irrtümlich
als Original abgebildet ist. Dessen ungeachtet ist die Zuschrei-
bung richtig und wurde von Erich Schleier im Frühjahr 1993
nach eingehender Betrachtung des authentischen Gemäldes aus-
drücklich bestätigt. Auch Ferdinando Arisi sieht mit Brief vom
9. Juni 1993 in Giovanni Ghisolfi den Urheber des Bildes, das
er der späten Schaffenszeit Ghisolfis zuordnet.
U.W
: Siehe Busiri Vici, Giovanni Ghisolfi, S. 1 u. 2.
* Bezeichnung für eine mit dem 15. Jahrhundert beginnende Perspektivmalerei,
welche die Wände und Decken eines Innenraumes durch illusionistische
Architekturausblicke optisch erweitern soll.
‘79 n. Chr. vom römischen Senat errichtet.
' 1515, Karton im Victoria and Albert Museum, London.
Versteigert am 27, Oktober 1983 bei Christie’s in New York. Nr. 164 A.
Literatur: Seite 154