Kat. Nr. 27
GUIDO RENI (1575-1642)
«AMOR», Fragment der «ENTFÜHRUNG EUROPAS»
(ca. 1630-35)
Leinwand; 84 X 120 cm
Inv. Nr. G 1317
Erworben: vermutlich vor 1712 durch Fürst Johann Adam Andreas I.
Das Bild des Liebesgottes Amor ist ein Fragment — nur das
Bruchstück noch — einer einstmals figurenreichen Bildkomposi-
tion in großem Format.
Am oberen Bildrand verbirgt sich in einem kleinen Detail der
Schlüssel zur Deutung der merkwürdigen Szene, die im Hinter-
grund Draperien und auch das Kniestück einer weiblichen
Gewandfigur erkennen läßt. Amor nämlich hält in der geschlos-
senen Faust seines hochgereckten Arms das Ende eines Pfeils.
Die Spitze dieses Liebessymbols ist in dem weichen, samtigen
Stiermaul verschwunden, zu dem der rotwangige und goldglän-
zend gelockte Knabe mit leicht geöffnetem Mund aufblickt.
Erst in der Spiegelung durch die ekstatische Verzückung des
Liebesgottes selbst enthüllt sich der Sinn dieser nicht unkomi-
schen Vereinigungsmetapher. Amor schoß hier den Pfeil nicht
vom Bogen, um ihn in das Fleisch eines nunmehr in Liebe Ent-
brannten eindringen zu lassen. Ungewöhnlicherweise sehen wir,
daß die Eroberungswaffe im Liebeskampf der Geschlechter statt
dessen bereitwillig aufgenommen und, wie es scheint, sogar
verspeist wird. Derjenige, der den Liebesgott hier verzückt und
ihm gleichwohl aus der Hand frißt, ist denn auch niemand ande-
tes als der Herr der Götter selbst. Zeus nahm die Gestalt eines
weißen, sanftmütigen Stieres an. So konnte es ihm gelingen,
Europa, die phönizische Königstochter zu täuschen und ihre
anfängliche Furcht zu zerstreuen, um sie dann, göttlichem
Brauch folgend, zu rauben.
Am Boden, zu Amors Füßen, liegen vor der knienden Dienerin
die Blumen, die die künftige Stiersbraut mit ihren Gefährtinnen
schon gepflückt hatte, für den «frischen Kranz zu umwinden die
Hörner», die laut Ovid wie leuchtende Edelsteine aussahen, und
deren eines Europa während des wilden Rittes über das Meer
umfaßt hielt.
Eine Vorstellung von Renis einstmaliger Gestaltung dieses
Mythos, der in den Metamorphosen erzählt wird, haben wir
glücklicherweise durch die von Pepper in Sanssouci, Potsdam,
entdeckte Kopie eines Reni-Schülers (wahrscheinlich Fran-
zesco Gessi) nach dem Bild des Meisters. Auf diesem Gemälde,
das im linken unteren Viertel exakt mit dem liechtensteinischen
Fragment übereinstimmt, ist der Moment dargestellt, in dem
Europa, umgeben von ihren Gefährtinnen, soeben den Rücken
des Stieres besteigt.
Die betrübliche Geschichte der Zerstückelung des Reni’schen
Originals läßt sich selbst auch nur mehr bruchstückhaft darstel-
len. Wahrscheinlich wurde das Amorfragment bereits von Fürst
Johann Adam Andreas I. erworben. Zu dieser Zeit war sicher-
lich das Format noch ein wesentlich breiteres, bei allerdings
gleicher, bereits beschnittener Höhe. Im Katalog von 1767, in
jenem von 1780 und auch noch 1805, im Inventarmanuskript,
wird das Fragment mit der Breite von 240 cm genannt. Erst seit
1873 wird eine Breite von 121 cm gemessen, so daß das Ergeb-
ais der letzten Beschneidung des Gemäldes im Verlauf des
19, Jahrhunderts ein Dekorationsstück war, dessen Fragment-
charakter verschleiert blieb. Dieser Absicht entsprangen wohl
auch die damaligen Übermalungen, die 1988 gemeinsam mit
lem Tuch, das seit 1910 Amors Blöße bedeckte, abgenommen
wurden und nun neben den Draperien auch Gliedmaßen und das
Stiermaul zum Vorschein kommen ließen. Und tatsächlich
scheint die neuerliche Fragmentierung des 19. Jahrhunderts fast
zur glücklichen Wahl geworden zu sein, denn in dem engbe-
zrenzten Ausschnitt, der den Amor jetzt in den «Bildmittel-
yunkt» rückt, entfaltet sich Renis hinreißende Meisterschaft in
der barocken Figurenkomposition. Die Haltung der puttenhaf-
;en Gestalt mit dem emporgereckten Arm birgt ein Motiv größ-
'er Spannung in sich: Die Balance zweier Achsen, Vertikale und
Diagonale, die auch für die räumliche Verkürzung der Figur
zuständig sind. In dieser Spannung entfaltet Reni durch die Dar-
stellung von Üppigkeit und Fülle des weichen Fleisches ein
Moment erotischer Sinnlichkeit. Auch der feine Rotton mancher
Partien des marmorhellen Puttenkörpers und die auf kühlen, dis-
sonanten Klängen basierende Farbharmonie von Violett- und
Rosatönen, die sich dann im Goldglanz des Amorhaares löst,
ragen diesen Sensualismus.
Wegen des stilistischen Befundes wird das Fragment, auch
schon zu Zeiten der noch unentdeckten Gesamtkomposition, in
der kunsthistorischen Literatur übereinstimmend in die ‚erste
HNälfte der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts datiert. Das silbrig
xühle und leicht porzellanen wirkende Kolorit paßt ebenso in
Jliese angenommene Entstehungszeit wie die trockenen, den
sichtbaren Pinselstrich tragenden Oberflächen der Gewänder.,
Auch die Formen der Draperien, die eher brüchig verlaufen und
in schwereres Faltenwerk münden, erscheinen ebenfalls in den
nittleren dreißiger Jahren, besonders in den ganzfigurigen großen
Altarkompositionen (Pala des Hl. Andrea Corsini, Florenz,
Palazzo Corsini; Pala della Peste, Bologna, Pinacoteca Nazio-
nale), so daß für die «Entführung Europas» eine Entstehungszeit
zwischen 1630 und 1635 angenommen werden kann. M.H.
Ausstellung und Literatur: Seite 153