Kat. Nr. 17
ALESSANDRO BONVICINO
gen. IL MORETTO (um 1492/95 1554)
«DER HEILIGE HIERONYMUS»
Holz; 39 X 31,1 cm; Bildtafel: 37,7 X 29,2 cm
Inv. Nr. G 313
Erworben: 1869 durch Fürst Johannes II.
In der Mitte seiner Tafel zeigt uns Moretto den heiligen Eremi-
ten Hieronymus. Im weißen Büßergewand, den Oberkörper
halb entblößt, sitzt er auf einem Stein. Ein großer dunkler Fels
türmt sich auf der linken Bildhälfte und bezeichnet zugleich die
Einöde und auch die Studierstube des heiligen Gelehrten. Der
felsige Vorsprung, ganz nahe dem Betrachter, dient dem
Hieronymus als Pult für die Bücher und als Altar für das Kruzi-
fix. Mit dem rechten Arm stützt er sich auf das geöffnete Buch,
den Kopf — längst nicht mehr lesend —- hat er erhoben und auf die
Hand aufgelegt. Die Pose der Meditation zeigt ihn versunken in
den Anblick des Gekreuzigten.
Das, worüber er meditiert, liegt ausgebreitet wie Stationen auf
dem Weg, an dessen Ziel der Gekreuzigte steht, vom weißen
Tuch hinterfangen. Es ist der Totenkopf, der auf dem geschlos-
senen Buch liegt und als memento mori die Unausweichlichkeit
und die Macht des Todes demonstriert — auch über die Weisheit
der Bücher. Und, wie so oft auf Morettos Bildern, unterstützt
auch hier das geschriebene Wort das, was sich malerisch schon
offenbart: Trost — nämlich in der hellen Bildzone des Christus
am Kreuz.
«Virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt», (Psalm 23,
Vers 4) läßt uns Hieronymus in dem aufgeschlagenen Buch
lesen. Es ist eine theologische Anspielung auf das Holz des
Kreuzes und damit auf das Versöhnungsopfer Christi, das mit
der heilsgeschichtlichen Rettung auch Trost über das Axiom des
Todes, das der Natur innewohnt, erhoffen läßt.
So zeigt sich der Kirchenvater in der Bildmitte, dort, wo die
helle, lichte Sphäre der Welt mit der dunklen Zone der Wildnis
zusammentrifft, an der Schnittstelle von Zivilisation und Natur,
als eine meditierende Vermittlungsfigur, als ein «Eingeweihter»,
der Eremit nur sein kann, weil er beidem angehört: der Welt und
der Askese.
Auf der kleinen Tafel, einem eigentlichen Kabinettstück, hat
Moretto den in der frühen Zeit des Christentums konvertierten
Gelehrten im Sinn eines Humanistenbildnisses dargestellt.
Diese Interpretation fand vor allem in der venezianischen Bild-
kultur große Verbreitung.
Schon Giovanni Bellini hatte den San Girolamo (Florenz,
Uffizien und London, The National Gallery) in den achtziger
Jahren des 15. Jahrhunderts lesend und nicht mehr mit dem Mar-
terstein in der Hand in eine Landschaft gesetzt und damit die
humanistische Reflexion des religiösen Stoffes gezeigt. Die
große Zahl der Hieronymusbilder auch in der nordalpinen
Renaissancekultur, man denke an die Darstellungen Dürers,
spiegelt das besondere Interesse der gelehrten Humanisten-
kreise an dem heiligen Eremiten als einer Identifikationsfigur
und einem Bild christlicher Spiritualität. Morettos Freund und
älterer Malerkollege Lorenzo Lotto hat das Thema vielfach,
auch schon vor seiner bergamaskischen Zeit, als beide zusam-
mentrafen, gestaltet. Sicherlich sind in seinen Bildschöpfungen
nahe stilistische Parallelen zu den Hieronymusbildern Morettos
zu finden, ist doch beiden die Gestaltung der Landschaft als
künstlerische Herausforderung gemeinsam.
Für die chronologische Einordnung der Tafel in das Oeuvre
Morettos ist die Nähe zur Hieronymustafel in Stockholm (Uni-
‚ersität, Inv. Nr. 219) und besonders auch die große Affinität zu
‚enem Bild bedeutsam, das zur Dekoration von San Giovanni
Evangelista in Brescia gehört und von Moretto in den Jahren
1521-24 gemalt wurde: «Der schlafende Elias wird vom Engel
getröstet». Nicht nur die Landschaften sind wegen ihrer tiefen-
räumlichen Organisation und der noch leonardesken Dreiteilung
n Nähe, Mitte und Ferne, die bis hin zum sfumato auch vom
Kolorit getragen wird, eng verwandt. Es gibt auch deutliche
Ähnlichkeiten in den Fels- und Architekturformen und beson-
ders bei den Figuren der Heiligen. Ebenso stimmt die Durchbil-
dung von Muskelpartien an den Armen und am Oberkörper und
vor allem die weiche Faltenführung der Bußhemden überein.
{n zeitlich möglicherweise kurzer Folge auf den «Elias» ist das
liechtensteinische Bild aber sicherlich um einiges später als der
‚esende Hieronymus in Stockholm entstanden. Dort wirkt nicht
aur das Sitzmotiv des Heiligen und seine Einbettung in die
Landschaft archaischer, auch die künstlerische Durchdringung
des Themas, besonders in jener subtilen Darstellung eines
humanistischen Verständnisses, ist auf der kleineren Tafel in
Liechtenstein wesentlich weiter geführt. M.H.
Literatur: Seite 151