Kat. Nr. 64 und Kat. Nr. 65
FILIPPO PARODI (1630-1702)
Allegorie der «TUGEND» (um 1684—94)
Marmor; Hóhe 76,5 cm
Inv. Nr. S 15
Erworben: vermutlich nach Auftrag durch
Fürst Johann Adam Andreas I. vom Künstler
Allegorie des «LASTERS» (um 1684—94)
Marmor; Hóhe 75 cm
Inv. Nr. S 11
Erworben: vermutlich nach Auftrag durch
Fürst Johann Adam Andreas I. vom Künstler
Die beiden Büsten sind als Gegenstücke konzipiert: eine nach
links gewendete, junge Frau, die Allegorie der Tugend, deren
üppiges Haar mit einem Lorbeerkranz geschmückt ist, und,
ebenfalls in Form eines Bruststücks, eine nackte, männliche
Gestalt, die Allegorie des Lasters, deren nach rechts gewendeter
Kopf mit weit geóffnetem Mund in fast grimassenhafter Verzer-
rung erscheint. Eine faltenreiche Draperie verhüllt einen groBen
Teil des Oberkórpers der Frau, wobei in der Brustmitte ein Son-
nensymbol hervorscheint. Unter der rechten Achsel der Frau
tritt eine Speerspitze hervor. Um Brust und Arme des männli-
chen Gegenstücks sind Ketten gelegt, aus denen sich der Darge-
stellte krampfhaft zu befreien versucht.
Obwohl die beiden Büsten zum alten Bestand der Sammlung
gehören, erfuhren sie erst anläßlich der New Yorker Liechten-
stein-Ausstellung von 1985/86 eine gebührende Würdigung.
Von Raggio wurden sie überzeugend Filippo Parodi zugeschrie-
ben, der als der bedeutendste Bildhauer Genuas in der Nach-
folge von Pierre Puget angesehen werden kann. Das Werk des
als Holzbildhauer ausgebildeten Künstlers umfaßt überwiegend
Arbeiten religiöser Thematik, aber auch dekorative profane
Skulpturen, die er für private Auftraggeber schuf. Außer in
Genueser Kirchen und Palästen befinden sich größere Werk-
komplexe im Veneto, wo der Künstler von 1689 bis 1695 tätig
war. Eines der Hauptwerke Parodis ist die plastische Aus-
schmückung der Cappella del Tesoro im Santo zu Padua.
Von den liechtensteinischen Büsten werden besonders bei der
weiblichen Büste, wie Raggio beobachtete, stilistische Gemein-
samkeiten mit dokumentierten Werken des Künstlers deutlich.
Charakteristisch ist die lebendige, dynamische Gestaltung des
Gewandes, dessen scharf geschnittene Konturen wie geschnitzt
erscheinen. Gleichzeitig werden dekorative Details, wie der
Lorbeerkranz, in großer Virtuosität mit zahlreichen Unter-
scheidungen gestaltet. Von einem vergleichbar malerischen
Gegensatz sind zum Beispiel Parodis Marmorstatuen der Meta-
morphosen, die der Bildhauer um 1680 für den Palazzo Durazzo
in Genua geschaffen hatte, gekennzeichnet. Ähnlich fließende
Formen in der Gewandgestaltung wie die Tugend-Büste besit-
zen auch die Allegorien von Ruhm und Zeit vom Grabmonu-
ment für den Patriarchen Francesco Morosini in San Nicola dei
Tolentini in Venedig (1680—83). Sowohl stilistisch als auch
durch ihre Funktion als dekoratives Büstenpaar stehen den
Tugend-Laster-Büsten die Allegorien von Flora und Bacchus
(Villa Pisani in Stra) nahe, die Parodi wohl etwa gleichzeitig
wie die beiden liechtensteinischen Marmorwerke geschaffen
hatte. Die Zuschreibung der beiden Büsten an Parodi dürfte sich
auch dadurch konkretisieren lassen, dab im Nachlaf des Bild-
hauers eine — thematisch sonst recht ungewóhnliche — Büste des
Lasters («Vizio Busto»; Rotondi Briasco 1962, S. 88) aufgeführt
ist, bei der es sich vielleicht um ein Modell für die Marmor-
version gehandelt haben kónnte.
Die weibliche Figur stimmt in ihren Attributen, dem Lorbeer-
kranz, der Sonne und dem Speer mit den in Cesare Ripas «Ico-
nologia» von 1663 dargestellten Symbolen einer Allegorie der
Tugend überein. Das männliche Gegenstück hingegen erscheint
in der Gestalt von Tityus, einem der ewigen Büßer der Unter-
welt, der traditionell als Personifikation des Lasters galt. Als
künstlerische Vorbilder für die beiden gegensätzlichen Charak-
tere dienten Parodi offenbar zwei Marmorbüsten von Gian
Lorenzo Bernini, die sogenannte «Anima Beata» bzw. «Anima
Dannata», die in der liechtensteinischen Sammlung durch Bron-
zereproduktionen von Massimiliano Soldani präsent sind (Kat.
Nr. 62 und 63). Die Rezeption von Werken Berninis überrascht
bei diesem zum Eklektizismus tendierenden Künstler nicht.
Durch die aufwendige Gewandung und die virtuose Detailge-
staltung verlieh Parodi der weiblichen Büste, die etwas matro-
nenhaft emporblickt, eine vergleichsweise dekorative Note,
worin sie der zeitgenössischen Genueser Malerei verwandt ist.
Auch bei dem männlichen Gegenstück, dessen Ketten gleich-
sam ein Teilstück aus einer umfangreicheren Komposition sug-
gerieren, wird gegenüber der konzentrierten Ausdrucksstudie
Berninis eine eher erzählerische Gestaltungsweise erreicht.
Anscheinend entsprachen die beiden Marmorbüsten dem
Geschmack von Fürst Johann Adam, denn in einem Brief von
1694 an den Maler Marcantonio Franceschini, der den großen
Bilderzyklus von Diana und Adonis für seinen liechtensteini-
schen Mäzen geschaffen hatte, lobte er zwei zeitgenössische
Bildhauer überschwenglich. Er stellte heraus, daß er zwar
etliche Marmorbüsten verschiedener italienischer Bildhauer
besäße, aber nur Giuseppe Mazza und Filippo Parodi verdienten
es, als wahre Künstler bezeichnet zu werden (der Brief wird von
Raggio zitiert). Dieses Urteil basierte wohl auf Parodis Tugend-
und Laster-Büsten, die vermutlich einige Zeit zuvor in die fürst-
liche Sammlung gelangt waren. V.K.
Ausstellung und Literatur: Seite 162