Historiographie
Graubündens
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«System des Gleichgewichts» — als dasjenige der Heiligen Allianz und
Klemens Metternichs — hätten alles erstickt, Selbstzweck, Selbstbestim-
mung, Freiheit, Landstände und Parlamente zu «Reliquien» reduziert und
«Volk und Land» als Mittel zum Zweck missbraucht. Kaiser, damals Repu-
blikaner, entschieden antimonarchistisch und überzeugt vom Gedanken
der Selbstbestimmung des Einzelmenschen und der Volkssouveränität,
klagt die politische Verfassung seiner Zeit und die Entmündigung des Vol-
kes scharf an. Nur in Amerika sei die Revolution des Geistes frei und wirk-
lich, weil kein Kolonialismus, weil «keine Erblichkeit die Verhältnisse»
trübe. Hier scheint das damals viel vernommene Lob des grossen Staates
durch, des Staatenbundes, und das von der schweizerischen Regeneration
und Ignaz Paul Vital Troxler für die Eidgenossenschaft gewünschte ameri-
kanische Modell der Volksvertretung,** das 1848 mit dem Zweikammer-
system im Schweizerischen Bundesstaat realisiert wurde.
Mit dem Wechsel von Aarau nach Disentis machte Kaiser nicht nur geo-
graphisch einen Schritt Richtung Heimat, die ihn alsbald politisch in die
Pflicht nahm, sondern vollzog auch, wie Iso Müller meint,?? «eine
Abwendung von der Aufklárung zur Romantik, von den radikalen Ten-
denzen zu den konservativ-liberalen Ideen». Von einem Geschichtsden-
ker änderte sich der Pädagoge Kaiser zu einem Geschichtsforscher und
Geschichtsschreiber Churrätiens und des Fürstentums Liechtenstein.
Seit Beginn der Tätigkeiten in Graubünden nämlich befasste sich Kaiser
mit der Geschichte des churrätischen Raumes. Graubünden konnte
damals schon aufeine reiche historiographische Tradition verweisen.?! In
Theodor von Mohr fand die Bündner Geschichtsforschung einen uner-
müdlichen Sammler von Urkunden, der eine schliesslich 29 Bánde umfas-
sende, monumentale Dokumentation mit rund 8000 Schriftstücken und
449. Peter KAISER: Andeutungen über schlins, Niklaus Sererhard, Peter Dominicus
Geist und Wesen der Geschichte. IN: Pro-
gramm (..) der Aargauischen Kantonsschule.
Aarau 1830, S. 1—51, zu Amerika S. 41, 48 f.
450. MÜLLER: Charakteristik, S. 65. — Vgl.
MÜLLER: Geistesgeschichtliche Studie, S. 75 ff.
— Diese Aussage dürfte so formuliert doch
schwer zu halten sein. Kaiser, dessen politische
Ideen dem in der Regeneration sich mächtig
entfaltenden schweizerischen Radikalismus
zu «liberal» und «obscurant» waren, galt den
Bündner Klerikal-Konservativen als zu «radi-
kal», als zu «freigeistig».
451. PIETH: Bündnergeschichte. — FEL-
LER/BONJOUR: Geschichtsschreibung. —
Erinnert sei nur (bis ca. 1800) an die Namen der
Geschichtsschreiber Ulrich Campell, Hans
Ardüser, Bartholomäus Anhorn, Johann Guler
von Wyneck, Fortunat von Juvalta, Fortunat
Sprecher von Berneck, Ulysses von Salis-Mar-
Rosius a Porta, Johann Ulrich von Salis-Seewis.
452. KAISER: Theodor von Mohr (1794—
1854). IN: Bündnerisches Monatsblatt 1854,
S. 147 ff. — SCHMID: Theodor von Mohr, S. 123.
453. MOOR: Bündnerische Geschichts-
forsch. Gesellschaft, IN: Rátia 2 (1864), S. 1 ff. —
PIETH: Übersicht über die Geschichte der
Geschichtsforsch. Ges. u. d. HAGG, IN: Jahres-
bericht der Hist-antiqu. Gesellschaft von
Graubünden 1938. — Christian PADRUTT: 100
Jahre Historisch-Antiquarische Gesellschaft.
IN: 100. Jahresbericht der Historisch-Antiqua-
rischen Gesellschaft von Graubünden 1970,
S. XIII-XL.
454. Über Theodor von Mohr orientiert
neben der Biographie von Christian SCHMID
auch das Bündnerische Monatsblatt 1955,
S. 377—412 (Sondernummer Theodor von
Mohr) sowie der Nachruf von Peter KAISER,