262
Dieses Gedankengut wurde zu Beginn
des 20. Jahrhunderts in Liechtenstein
mit seiner eher konservativen und
bäuerlichen Gesellschaft als sozialistisch
und damit als «rot» angesehen, was aus
geschichtlicher Perspektive verständlich
ist. Die eher bürgerlichen und konser-
vativen Kreise, die sich ausdrücklich zur
Monarchie bekannten, scharten sich
um das Liechtensteiner Volksblatt.
Das Volksblatt hatte sich früher vehe-
ment dafür ausgesprochen, dass es in
Liechtenstein keine Parteien geben
sollte, da diese nur die Einheit des Lan-
des zerstórten. Doch vor den Wahlen
veróffentlichte auch das Volksblatt eine
eigene Liste von Landtagskandidaten.
So wurde der erste Wahlkampf in Liech-
tenstein für die Landtagswahl 1918 nicht
zwischen zwei neuen Parteien ausge-
tragen, sondern er fand zwischen der
Volkspartei und der Liste des Volksblat-
tes statt. In den Oberrheinischen Nach-
richten wurden die Gegner als «Herren-
partei» oder «Vaduzer Stammtischrunde»
bezeichnet. Das Volksblatt dagegen
warnte die Bevólkerung vor dem drohen-
den Sozialismus der Volkspartei.
Das Wahlergebnis dieser ersten gehei-
men und direkten Wahl fiel deutlich aus:
Die Volkspartei erreichte im Oberland
sechs von sieben Mandaten, im Unter-
land stellte sie zwei der fünf Abgeordne-
ten. Drei Abgeordnete wurden vom
Landesfürsten ernannt.
Unser Staat - das Fürstentum Liechtenstein Wahlsysteme und Parteien
Ende 1918 führten aussenpolitisch wie
innenpolitisch unruhige Zeiten zur Grün-
dung einer zweiten Partei: Am 22. De-
zember 1918 konstituierte sich die
«Fortschrittliche Bürgerpartei» (FBP), der
sich auch Parteiganger der Volkspartei
anschlossen. Bedingt durch die gesell-
schaftlichen Verhaltnisse jener Jahre,
hatten sich in der Bürgerpartei vor allem
die bürgerlichen und konservativen
Bevólkerungsgruppen gesammelt: die
«Schwarzen», wie man sie als Alter-
native zu den «Roten» nannte.
Die Initiative zur Gründung der Bürger-
partei ging vom Redaktor des Liechten-
steiner Volksblattes, Prof. Dr. Eugen
Nipp, und einigen Vaduzer Bürgern aus.
Die Grundidee dieser Partei formulierte
Dr. Eugen Nipp in seiner Zeitung vom
27. Dezember 1918: «Zur Fortschritt-
lichen Bürgerpartei soll sich jeder unbe-
scholtene Liechtensteiner, wes Standes
und Berufes er sei, bekennen, der in
Treue zu unserem Fürsten und Fürsten-
haus für einen gesunden, den Forde-
rungen der Neuzeit und zum Wohle des
Landes entsprechenden Fortschritt ein-
treten will, für einen Fortschritt in den
Bahnen der Ordnung und der Gesetz-
lichkeit.»
Beinahe zur selben Zeit veróffentlichten
im Januar 1919 die Christlich-soziale
Volkspartei und die Fortschrittliche Bür-
gerpartei das Parteiprogramm in ihren
Zeitungen. Wenn auch die beiden Par-
teien in grundsátzlichen Punkten, wie im
Bekenntnis zur Demokratie, zur katho-