Staatsgerichtshof und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
ten zu ändern bzw. zu kassieren, wenn er feststellt, dass die EMRK oder
ihre Protokolle verletzt worden sind.
Da die Verbindlichkeit und die Umsetzung der Entscheidungen des
EGMAR innerstaatlich nicht geregelt sind, gilt es aus der Sicht des Art. 46
Abs. 1 EMRK «zwei wesentliche Fälle» auseinanderzuhalten: Verstösst
eine gerichtliche Entscheidung gegen die EMRK und ihre Protokolle,
hat dies für die verletzte Partei zur Folge, dass die «neue rechtliche Beur-
teilung durch den EGMR>» keinen Wiederaufnahmegrund darstellt. Eine
Verpflichtung zur Wiederaufnahme innerstaatlicher Verfahren besteht
in diesem Fall für die Konventionsstaaten nicht.” Diese Auffassung
wird noch mehrheitlich in der Lehre vertreten, doch gibt es auch ver-
einzelt gewichtige Stimmen, die fordern, «dass die Vertragsstaaten die
Möglichkeit zur Wiederaufnahme eines innerstaatlichen Verfahrens nach
Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR vorsehen
müssen».5%
Erfolgt die Konventionsverletzung, die der EGMR feststellt, durch
den Gesetzgeber, löst dies für ihn eine völkerrechtliche Pflicht zur
Gesetzesänderung aus.>1° Er ist gehalten, die fragliche Norm ab Ver-
kündung des Urteils nicht mehr anzuwenden und die Norm möglichst
bald zu novellieren.!! Auch dann, wenn in einem konkreten Fall der
Vollzug eines Gesetzes verfassungsmässig gewährleistete EMRK-Rechte
508 StGH 2006/111, Urteil vom 3. Juli 2007, Erw. 5 (im Internet abrufbar unter:
<www.stgh.li>). Die EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht dazu, dem
EGMR-Urteil «eine die Rechtskraft beseitigende Wirkung beizumessen». Der
Staatsgerichtshof weist in diesem Urteil darauf hin, dass die Rechtslage in Liechten-
stein derjenigen ähnlich ist, die in der Schweiz vor der Einführung von Art. 139a
OG (heute Art. 122 BGG) bestanden hat. Auch hier habe in der Regel «nicht ein-
mal das urteilende Gericht selbst auf sein formell rechtskräftiges Urteil zurück-
kommen» können, da die traditionellen Revisionsgründe auf das Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofs nicht zutrafen. Vgl. auch Andreas Kley, Staatsgerichtshof
und übrige einzelstaatliche Rechtsprechungsorgane, S. 54 f.
509 So Hugo Vogt, Innerstaatliche Durchsetzung, S. 85 ff. Mit Blick auf Liechtenstein
stimmt er dem Staatsgerichtshof zu, wonach «das Ergebnis des Fehlens eines Wie-
deraufnahmeverfahrens für diejenigen Fälle unbefriedigend ist, in denen die Wie-
deraufnahme zur Abhilfe einer EMRK-Verletzung erforderlich ist». Aus diesem
Grund postuliert er für solche Fälle, «Regelungen zur Wiederaufnahme eines Ver-
fahrens in die liechtensteinischen Prozessordnungen aufzunehmen» (S. 99).
510 Vgl. Stefan Mückl, Kooperation oder Konfrontation, 5. 417 mit weiteren Hinweisen.
511 Vgl. Andreas Kley, Staatsgerichtshof und übrige einzelstaatliche Rechtsprechungs-
organe, S. 54 f.
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