Die direktdemokratischen Instrumente in der Gegenwart
unterschiedlichen Regelungsbeständen wie Richterbestellung, Monar-
chieabschaffung, Misstrauensantrag gegen den Fürsten, Neuordnung der
Regierungsentlassung, Notrechtsregelungen, Sanktionsrecht, Sezessions-
recht der Gemeinden usw. als Einzelvorlage wohl nur zur Abstimmung
gelangen, wenn dies unter dem Titel der Totalrevision der Bundesverfas-
sung erfolgen würde. Bei der Verfassungsabstimmung von 2003 handelte
es sich aber um eine Teilrevision der Verfassung von 1921.27
Dennoch sind Zweifel angebracht, ob die weiter oben zitierte apo-
diktische Aussage der VBI zum fehlenden Erfordernis der Einheit der
Materie in Liechtenstein haltbar ist. Die Prüfung der Frage der Einheit
der Materie stellte sich für die VBI in ihrem Entscheid gar nicht, da im
erwähnten Beschwerdeverfahren bereits aus formalen Gründen die
Unzulássigkeit der Beschwerde festgestellt wurde, sodass sich eine de-
taillierte Begründung und Argumentation zum Sachverhalt der Einheit
der Materie erübrigte. Die Aussage zur Einheit der Materie ist daher
keine Schlüsselaussage im Entscheid der VBI. Sonst hátte die VBI nàm-
lich zwei Gutachten des StGH (siehe folgende Absätze), die zwar nicht
formaljuristisch, wohl aber aus übergeordneten Demokratieüberlegun-
gen für eine Einheit der Materie plädieren, ausführlicher in die Überle-
gungen einbeziehen müssen. Der StGH seinerseits musste sich in seinem
Urteil nach dem VBI-Entscheid in gleicher Angelegenheit auf die Be-
schwerde betreffend Einheit der Materie unter anderem gar nicht näher
einlassen, da er die Beschwerde aus formalen Gründen grundsätzlich
222 Zur Total- und Partialrevision auch Batliner (1993, S. 147-151), der in Liechtenstein
keine Verfahrensunterschiede und keine Abgrenzung zwischen diesen Fällen fest-
stellt. Tatsächlich ist im VRG nicht eindeutig geregelt, was eine Totalrevision und
was eine Teilrevision ist. Art. 85 Abs. 1 VRG spricht von «Revision der Verfassung
(Erlass, Abänderung oder Aufhebung) im ganzen oder einem Teile nach (Total- oder
Partialrevision)», ohne die Differenzen weiter zu vertiefen. Die begriffliche Unter-
scheidung ist also rechtlich irrelevant und eher eine Frage des Sprachgebrauchs.
Obwohl die Verfassungsänderungen von 2003 fundamentale und gravierende Ände-
rungen mit sich brachten, tendiert der Autor dazu, von einer Partialrevision zu spre-
chen, da weite Teile der Verfassung unverändert blieben, die Verfassung weiterhin
den Titel «Verfassung vom 5. Oktober 1921» trägt und weil das Verfahren der Ein-
führung über eine Volksinitiative (ohne Mitwirkung des Landtages, einer Verfas-
sungskommission oder ähnlicher Beratungs- und Beschlussgremien) nicht dem Vor-
gehen bei einer Totalrevision entspricht. Mit Blick auf die schweizerische Rechtsli-
teratur könnte allenfalls von einer materiellen, aber nicht von einer formalen
Totalrevision gesprochen werden. Siehe auch Häfelin und Haller 2002, N. 1763 ff.
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