Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2021) (2021)

St. Luzisteig dürften mehr oder weniger an der Tages- 
ordnung gewesen sein. Immerhin aber scheinen die 
sich vermutlich gegenseitig argwöhnisch belauern- 
den Viehhüter im umstrittenen Grenzgebiet soweit 
ınter Kontrolle gehabt zu haben, dass es zumindest 
zu keinen der früher üblichen Schlägereien mehr ge- 
kommen ist, von «stössen» ist jedenfalls nicht mehr die 
Rede. Vielleicht darf man dies auch als Hinweis da- 
hingehend interpretieren, dass die Konfliktparteien ein 
gewisses Mass an Vertrauen in eine gerechte bzw. zu 
ihren Gunsten ausfallende Entscheidung des Gerichts 
hegten, zumindest wollte man das Urteil abwarten und 
versuchte bis dahin, sich einigermassen vernünftig zu 
verhalten. Eine solche Zurückhaltung dürfte wohl bei- 
den Parteien nicht leicht gefallen sein angesichts der 
Tatsache, dass die unterlegene Partei mit erheblichen 
Auswirkungen auf ihre Lebensgrundlagen rechnen, im 
schlimmsten Fall sogar sich in ihrer Existenz bedroht 
Fühlen musste. Das angerufene Schiedsgericht stand 
denn auch vor einer äusserst heiklen, um nicht zu 
sagen kaum lösbaren Aufgabe, ein für beide Parteien 
annehmbares Urteil zu fällen. Die Ausgangslage prä- 
zentierte sich klar und eindeutig: Entweder entschied 
sich das Gericht dafür, dass die höchste Erhebung auf 
dem Fläscherberg Spitzagud genannt wurde, was eine 
Grenzziehung zugunsten von Balzers-Mäls bedeutete, 
oder aber man einigte sich auf den Namen Spitzagul 
für die höchste Spitze und erlaubte den Fläschern, die 
Grenzziehung zu ihren Gunsten vorzunehmen. Eine 
dritte Möglichkeit, sich im Sinne eines Kompromisses 
zu entscheiden, stand dem Gericht nicht zur Verfü- 
zung. Den Konfliktparteien ging es gleichsam um alles 
oder nichts; eine für alle Beteiligten befriedigende Lö- 
sung kam folglich der Quadratur des Kreises gleich. 
Der Entscheid 
Am 15. Mai 1505 — einem Donnerstag in der Pfingst- 
woche - lud das in Maienfeld versammelte Richtergre- 
mium unter dem Vorsitz von Ulrich von Hohensax die 
beiden Parteien zur endgültigen Verhandlung vor die 
Schranken des Gerichts. Daselbs wir alle fünf manne der 
kleger kuntschaft, so sy dann besiglot vor vns erschain- 
tend, die aigelichenn verlesenn vnd durchgrünt wurdent, 
ouch jr red vnd |!* widerred vernomendt vnd nach jr 
kuntschaft briefe clarlichenn von dem obristenn spitz mel. 
dung tattendt, Nochmals wurden die unterschiedlichen 
Standpunkte den Schiedsrichtern vorgetragen und die 
vertretenen Argumente ausführlich dargelegt. Danach 
oblag es den vier Beisässen des Gerichts, sich ein Urteil 
darüber zu bilden, welche der beiden Konfliktpartei- 
en die besseren Beweise vorzulegen vermochte. Aber 
die Schiedsrichter — wie eigentlich nicht anders zu er- 
warten — konnten sich nicht auf ein mehrheitsfähiges 
Urteil einigen. Sie waren ja keineswegs «unabhängige» 
Richter, sondern in erster Linie Parteienvertreter und 
insofern an Sachzwänge gebunden, die es ihnen nahe- 
zu unmöglich machten, zum Schaden ihrer Partei Stel- 
lung zu beziehen und einem Gerichtsentscheid zuzu- 
stimmen, das den vertretenen Interessen widersprach. 
Es blieb schliesslich am Hohensaxer als Gerichtsob- 
mann und sozusagen Zünglein an der Waage, einer der 
beiden Parteien mit seiner Stimme zum Sieg zu ver- 
helfen und damit die Angelegenheit zu entscheiden. 
Diewil vnd also vorgemeltenn bysessen jn jerenn vrtelenn 
also glich zerfallenn vnd zwispeltig sindt vnd jch obgenan- 
ter Vlrich als obman die ain vrtil ze meren gewalt |? hab, 
daruff so erkenn jch vss rat gaistlicher vnd weltlicher die 
vrtil, so dann klarlichenn besagt, die kleger gnugsamli- 
chen vsspracht habendt, der höchst vnd obrist spitz vff 
Flescher Berg ?° Spitzengud haiss, fur die besser, setz also 
die jn kreftenn zu vrkund. Im Gegensatz zum knapp 
zwei Jahre früher gefällten Vertagungs-Urteil muss es 
den Dorfgenossen von Balzers und Mäls inzwischen 
gelungen sein, stichhaltige Beweise dafür zu erbrin- 
gen, dass die höchste und für eine zu ihren Gunsten 
massgebende Grenzziehung entscheidende Erhebung 
auf dem Fläscherberg Spitzengud genannt wurde. Es 
wäre interessant gewesen, welche neuen Argumen- 
te und Beweise die Balzner und Mälser dem Gericht 
vorlegten und damit den Vorsitzenden — allerdings nur 
ihn — schliesslich von der Richtigkeit ihrer Ansicht zu 
überzeugten vermochten. Leider hüllt sich Ulrich von 
Hohensax an dieser Stelle in Schweigen und lässt uns 
nicht an seinen Überlegungen teilhaben, die ihn zu 
seinem Stichentscheid zugunsten der klagenden Partei 
Balzers-Mäls bewog. Immerhin scheint er sich dabei 
geistlichen und weltlichen Ratschlags versichert zu 
haben, falls dieser Behauptung denn mehr als lediglich 
eine floskelhafte Bedeutung zuzuschreiben ist. Das 
ohne weitere, vom heutigen Leser nachvollziehbare 
Begründung vorliegende Urteil wirkt jedenfalls doch 
ein wenig befremdlich. 
ZU
	        

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