St. Luzisteig dürften mehr oder weniger an der Tages-
ordnung gewesen sein. Immerhin aber scheinen die
sich vermutlich gegenseitig argwöhnisch belauern-
den Viehhüter im umstrittenen Grenzgebiet soweit
ınter Kontrolle gehabt zu haben, dass es zumindest
zu keinen der früher üblichen Schlägereien mehr ge-
kommen ist, von «stössen» ist jedenfalls nicht mehr die
Rede. Vielleicht darf man dies auch als Hinweis da-
hingehend interpretieren, dass die Konfliktparteien ein
gewisses Mass an Vertrauen in eine gerechte bzw. zu
ihren Gunsten ausfallende Entscheidung des Gerichts
hegten, zumindest wollte man das Urteil abwarten und
versuchte bis dahin, sich einigermassen vernünftig zu
verhalten. Eine solche Zurückhaltung dürfte wohl bei-
den Parteien nicht leicht gefallen sein angesichts der
Tatsache, dass die unterlegene Partei mit erheblichen
Auswirkungen auf ihre Lebensgrundlagen rechnen, im
schlimmsten Fall sogar sich in ihrer Existenz bedroht
Fühlen musste. Das angerufene Schiedsgericht stand
denn auch vor einer äusserst heiklen, um nicht zu
sagen kaum lösbaren Aufgabe, ein für beide Parteien
annehmbares Urteil zu fällen. Die Ausgangslage prä-
zentierte sich klar und eindeutig: Entweder entschied
sich das Gericht dafür, dass die höchste Erhebung auf
dem Fläscherberg Spitzagud genannt wurde, was eine
Grenzziehung zugunsten von Balzers-Mäls bedeutete,
oder aber man einigte sich auf den Namen Spitzagul
für die höchste Spitze und erlaubte den Fläschern, die
Grenzziehung zu ihren Gunsten vorzunehmen. Eine
dritte Möglichkeit, sich im Sinne eines Kompromisses
zu entscheiden, stand dem Gericht nicht zur Verfü-
zung. Den Konfliktparteien ging es gleichsam um alles
oder nichts; eine für alle Beteiligten befriedigende Lö-
sung kam folglich der Quadratur des Kreises gleich.
Der Entscheid
Am 15. Mai 1505 — einem Donnerstag in der Pfingst-
woche - lud das in Maienfeld versammelte Richtergre-
mium unter dem Vorsitz von Ulrich von Hohensax die
beiden Parteien zur endgültigen Verhandlung vor die
Schranken des Gerichts. Daselbs wir alle fünf manne der
kleger kuntschaft, so sy dann besiglot vor vns erschain-
tend, die aigelichenn verlesenn vnd durchgrünt wurdent,
ouch jr red vnd |!* widerred vernomendt vnd nach jr
kuntschaft briefe clarlichenn von dem obristenn spitz mel.
dung tattendt, Nochmals wurden die unterschiedlichen
Standpunkte den Schiedsrichtern vorgetragen und die
vertretenen Argumente ausführlich dargelegt. Danach
oblag es den vier Beisässen des Gerichts, sich ein Urteil
darüber zu bilden, welche der beiden Konfliktpartei-
en die besseren Beweise vorzulegen vermochte. Aber
die Schiedsrichter — wie eigentlich nicht anders zu er-
warten — konnten sich nicht auf ein mehrheitsfähiges
Urteil einigen. Sie waren ja keineswegs «unabhängige»
Richter, sondern in erster Linie Parteienvertreter und
insofern an Sachzwänge gebunden, die es ihnen nahe-
zu unmöglich machten, zum Schaden ihrer Partei Stel-
lung zu beziehen und einem Gerichtsentscheid zuzu-
stimmen, das den vertretenen Interessen widersprach.
Es blieb schliesslich am Hohensaxer als Gerichtsob-
mann und sozusagen Zünglein an der Waage, einer der
beiden Parteien mit seiner Stimme zum Sieg zu ver-
helfen und damit die Angelegenheit zu entscheiden.
Diewil vnd also vorgemeltenn bysessen jn jerenn vrtelenn
also glich zerfallenn vnd zwispeltig sindt vnd jch obgenan-
ter Vlrich als obman die ain vrtil ze meren gewalt |? hab,
daruff so erkenn jch vss rat gaistlicher vnd weltlicher die
vrtil, so dann klarlichenn besagt, die kleger gnugsamli-
chen vsspracht habendt, der höchst vnd obrist spitz vff
Flescher Berg ?° Spitzengud haiss, fur die besser, setz also
die jn kreftenn zu vrkund. Im Gegensatz zum knapp
zwei Jahre früher gefällten Vertagungs-Urteil muss es
den Dorfgenossen von Balzers und Mäls inzwischen
gelungen sein, stichhaltige Beweise dafür zu erbrin-
gen, dass die höchste und für eine zu ihren Gunsten
massgebende Grenzziehung entscheidende Erhebung
auf dem Fläscherberg Spitzengud genannt wurde. Es
wäre interessant gewesen, welche neuen Argumen-
te und Beweise die Balzner und Mälser dem Gericht
vorlegten und damit den Vorsitzenden — allerdings nur
ihn — schliesslich von der Richtigkeit ihrer Ansicht zu
überzeugten vermochten. Leider hüllt sich Ulrich von
Hohensax an dieser Stelle in Schweigen und lässt uns
nicht an seinen Überlegungen teilhaben, die ihn zu
seinem Stichentscheid zugunsten der klagenden Partei
Balzers-Mäls bewog. Immerhin scheint er sich dabei
geistlichen und weltlichen Ratschlags versichert zu
haben, falls dieser Behauptung denn mehr als lediglich
eine floskelhafte Bedeutung zuzuschreiben ist. Das
ohne weitere, vom heutigen Leser nachvollziehbare
Begründung vorliegende Urteil wirkt jedenfalls doch
ein wenig befremdlich.
ZU