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Liechtensteiner Oberlands und des südlichen Wer
denbergs, der eine bald 150-jährige Kulturgeschich
te abbildet. Sie legt Zeugnis ab von den zahlreichen
gesellschaftlichen Raumansprüchen, die in dieser Zeit
entstanden sind und im Umfeld des Rheins abgedeckt
wurden. Sie erzählt das Bedürfnis der Menschen nach
Sicherheit vor den Gefahren des Hochwassers. Sie
spricht von unserem Flächenbedarf für die gewerb
lich-industrielle Entwicklung, vom Energiehunger,
vom Rohstoffbedarf und von unserem Bedürfnis nach
Mobilität. In dieser Landschaft manifestiert sich auch
unsere Freude an sportlichen Aktivitäten.
Der Bau der Hochwuhre bändigte den Rhein und
machte die Region weitgehend sicher vor den perio
dischen Überflutungen. Die Dämme waren aber auch
wichtige Voraussetzung für die weitere Nutzung des
Talraums. Diese war zunächst auf die Verbesserung
der Ernährungsbasis ausgerichtet. Mit der Entwick
lung von der Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft
wuchs die Zahl der Raumansprüche, und die Spuren,
die sie in der Landschaft hinterliessen, wurden allmäh
lich verbindlicher. So entstand nach und nach beidseits
des Rheins ein Band von Bauten und Anlagen. Die
ser Vorgang lief allerdings weitgehend unkoordiniert
ab. Zeitlich nachgeordnete Raumansprüche belegten
den Raum, den die bereits realisierten Vorhaben noch
übrig liessen. Diese Entwicklung entfaltete verschie
dene Wirkungen, von denen die folgenden besonders
bedeutend sind:
• Der Fluss als einst wichtigster Landschaftsgestal
ter ist heute weitgehend stillgelegt. Der Bau der
Dämme verbesserte nicht nur die Hochwassersi
cherheit - damit wurden auch die Gestaltungskraft
und die laufende Bodenerneuerung durch den Fluss
ausgeschaltet.
• Die Wuhre unterbrachen die mehrschichtigen Be
ziehungen des Flusses zu seinem Umland. Dies zeigt
sich etwa in der Auftrennung des Rheins von den
einst mit ihm in direkter Verbindung stehenden Ge
wässern und Wäldern. Die Trennung ist aber auch
ökologischer Art. Einst zusammenhängende Lebens
räume und Populationen weisen heute keine Bezie
hungen mehr auf. Schliesslich wirken sich die Hoch
wuhre landschaftlich aus, indem sich die Dämme
und der Blockwurf vor Raumelemente schoben, die
eigentlich zusammengehören. Strassen, Hochspan
nungsleitungen sowie die gewerblichen Nutzungen
verstärken und unterstreichen diesen Effekt.
• Die im Nahbereich des Rheins angesiedelten Nut
zungen haben den Flussraum besetzt und frag
mentiert. Dabei entstandenen «Zwischen- und
Resträume», die zwar noch gewisse Funktionen aus
üben - etwa als Schiessplatz oder als Abführbereich
für das Wasser des Sarganserlands. Aber als Teil der
Landschaft haben diese Räume wesentlich an Wert
eingebüsst. Die Gesellschaft hat bisher auch kaum
Aktivitäten unternommen, um diesen «Zwischen-
und Resträumen» wieder eine landschaftliche
Funktion und Raumqualitäten zu geben.
Neuorganisation des Raums
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung
der jüngsten Raumbedürfnisse [zum Beispiel vielfäl
tige, siedlungsnahe Erholungsräume, ökologische Auf
wertungen] gewinnt die Neuorganisation des Raums
zunehmend an Bedeutung. Sie kann als Strategie be
zeichnet werden, die verschiedene Resträume zusam
menführt, aufwertet und mit neuen Funktionen aus
stattet. Damit sollen in unserem begrenzten und dicht
genutzten Raum neue Qualitäten geschaffen werden.
Die bisherigen Eingriffe werden damit nicht beseitigt,
und der Rhein erlangt deswegen nicht seine ursprüng
liche Gestaltungskraft. Aber mit der bewussten Raum
gestaltung vergrössern wir einzelne Räume und holen
wieder einzelne funktionale Beziehungen zurück. In
diesem Zusammenhang eröffnet das Entwicklungs
konzept Alpenrhein die grosse Chance, unseren Tal
raum in Teilen neu zu organisieren.
Wie einst mit den Meliorationen Raum für die Land
wirtschaft gewonnen wurde, könnte eine Umsetzung
des Entwicklungskonzepts Alpenrhein als Melioration
verstanden werden, um aus den verstellten, ungestal
teten und verbauten Resträumen neue Raumkammern
mit höheren Qualitäten zu gewinnen. Sie dienen nicht
der Ernährung, sondern geben den Bedürfnissen der
heutigen und der künftigen Gesellschaften Raum. Sie
dienen in erster Linie der siedlungsnahen Erholung,
schaffen Freiräume, bieten Raum für neue Lebensräu
me und revitalisieren funktionale Beziehungen.
Eine Gesellschaft, die in der Lage ist, den natürlich be
grenzten und durch zahlreiche Nutzungen eingeeng
ten Raum so zu organisieren, dass er ein Höchstmass
an Funktionalität, Raumnutzen und Raumerlebnis er
möglicht, ist konstruktiv, innovativ und selbstbewusst.