45
«Buab, wann d ned folgescht, duat ma di is Schwoobaland»
Saisonale Kinderwanderung aus Liechtenstein nach Oberschwaben
Georg Burgmeier
Die wirtschaftliche Lage Liechtensteins
im 18. und 19. Jahrhundert
Liechtenstein gehörte bis ins 20. Jahrhun
dert zu den ärmsten Ländern Mitteleuropas.
Die meisten Einwohner waren Selbstver
sorger und lebten vom Ackerbau und von
der Viehwirtschaft. 1 Die intensiv genutzten
Flächen waren verhältnismässig klein und
immer wieder von Rheinüberschwemmun
gen oder Rüfeniedergängen bedroht. Dem
gegenüber stand eine stetig wachsende Bevöl
kerung, der besonders in Missjahren - so etwa
1817 und 1846/47 - Hungersnöte drohten.
Ende des 18. Jahrhunderts belegt. 3 Der erste
amtliche Hinweis für Bündner Schwaben
gänger findet sich 1801, 4 für saisonale Aus
wanderungen von liechtensteinischen Kin
dern und Jugendlichen nach Schwaben um
1815: «Selbst viele erwachsene, und junge
zu Hause entbehrliche Leute, und Kinder,
die kein Handwerk kennen, wandern im
Frühjahre nach Schwaben, trachten dort
als Knechte, Hirten, oder Taglöhner unter
zukommen, und sich ... nebst der Kost den
Sommer hindurch bald einen grösseren,
bald einen geringeren haaren Verdienst zu
erwerben.» 5
Seite 44: Ein Beispiel
von Realteilung im
Liechtensteiner
Unterland: Acker
flächen - «Familien
teile», «Hausteile»,
«Rietteile» und
«Böscha» - zwischen
Nendeln, Eschen
und Mauren. 1. Hälfte
20. Jahrhundert.
Ein entscheidender Grund für die hohe Ar
mut lag für Hofrat Georg Hauer in erster
Linie in der erbbedingten Zerstückelung
der ohnehin schon bescheidenen Ackerflä
chen: «... jeder ist nur Bauer, das väterliche
Gut wird unter die Kinder ohne amtlichen
Einfluss in gleiche Teile getheilt und so un
gereimt, dass ein besseres Stück, wenn es
auch noch so gering ist, so viele Abtheilungen
erhält, als Erben vorhanden - so auch die
Gütter von mitterer und der schlechtesten
Eigenschah, daher einzelne Besitzungen sich
auch nur auf Quadratklafter beschränken.» 2
Die wirtschaftliche Not zwang viele Liech
tensteiner, regelmässig das Land zu ver
lassen und im Ausland, besonders in der
Schweiz und in Süddeutschland, ihr Brot
zu verdienen. Neben Erwachsenen zogen seit
dem 18. Jahrhundert immer wieder auch
schulpflichtige Kinder aus Liechtenstein
nach Oberschwaben, um sich während der
Sommerzeit bei einem Bauern zu verdingen.
Der Beginn der Schwabengängerei
Saisonale Kinderwanderungen aus Vorarl
berg und Tirol nach Oberschwaben sind be
reits zu Beginn des 17. beziehungsweise am
Behördenstrenge gegen Untertanentrotz
Zwar galt in Liechtenstein seit 1805 die all
gemeine Schulpflicht, doch weigerte sich
die vorwiegend bäuerliche Bevölkerung
über Jahrzehnte hinweg erfolgreich, ihre
Kinder regelmässig zur Schule zu schicken.
Schliesslich benötigte man während der
Saat- und Erntezeit jede Art von Hilfe.
Allmählich häuften sich die Klagen über
die starke Vernachlässigung der Sommer
schule, insbesondere als im 19. Jahrhundert
viele Kinder im Sommer nach Schwaben
auswanderten, um dort bei der Ernte zu
helfen und so ihren Unterhalt zu verdienen. 6
Das Oberamt versuchte mit Verordnungen
sowie Erlassen, den regelmässigen Schul
besuch durchzusetzen. Doch Ortsvorsteher
und Ortsgeistliche, welche die sozialen
Verhältnisse der Antragsteller aus eigener
Anschauung kannten, entschieden in den
meisten Fällen pragmatisch: War die Not in
einer Familie zu gross, stellten sie trotz ob
rigkeitlichem Verbot die vorgeschriebenen
Schulbesuchsdispensen aus und stimmten
damit einer temporären Abwanderung ins
Schwabenland zu. Auch fürstliche Verord
nungen, beispielsweise diejenige von Fürst
1 Vgl. Burgmeier, S. 43.
2 Vogt, Lokalisierungs-
Bericht von Hofrat
Georg Hauer, S. 83.
3 Uhlig, S. 21.-
Joseph Rohrer:
Uiber die Tiroler.
Ein Beytrag zur
Oesterreichischen
Völkerkunde. Wien
1796, S. 49f., zit. nach
Seglias, S. 17.
4 Seglias, S. 17f.
5 Ospelt, S. 241.
6 Vgl. Quaderer, S. 143.