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Der Lokalaugenschein
Zur Klärung der Sachlage fand am 10. April
ein Lokalaugenschein statt, bei welchem
neben Landrichter Carl Blum Schriftfüh
rer Gregor Nigg, als Sachverständiger Lan
destechniker Gabriel Hiener, als Zeugen
die beiden Finanzwach-Oberaufseher Meyr-
hofer und Holzhammer, drei weitere Finanz
wach-Oberaufseher, Oltsvorsteher Heinrich
Brunhart und als Beschuldigte Albrecht
und Heinrich Wolhnger, Andreas Vogt sowie
Klemens Gstöhl zugegen waren.
Um den Grenzverlauf genau feststellen zu
können, waren bei den Grenzsteinen am
St. Katrinabrunna und am Tschingelkopf
Signalstangen aufgestellt worden. So konnte
der Grenzveriauf eindeutig bestimmt wer
den: Der Kampfplatz lag auf Schweizer
Seite, der Abstand zur Grenze betrug ge
rade mal 26,7 Meter. Auch der Platz, der
als Zwischenlager für die Schmuggelware
genutzt worden war, wurde identifiziert:
Er befand sich an einer Stelle, «wo durch
eine vorspringende Felspartie ein natürlich
geschützter Aufbewahrungsort für Waren
gerichtlicherseits gefunden» wurde. Die
Entfernung zur Grenze wurde nicht gemes
sen, doch betrug sie nur 200 bis 250 Meter.
Schliesslich wurde Johann Holzhammer
noch befragt, ob er unter den Anwesenden
jemanden erkenne, der ihn an der Grenze
für den Fall eines Übertritts bedroht habe.
Holzhammer erwiderte, niemanden zu er
kennen, es seien noch andere Leute anwe
send gewesen - und ging dann in seinem
Bemühen, den Konflikt zu entschärfen,
noch einen Schritt weiter: Keiner der Anwe
senden habe eine drohende Miene gezeigt.
Kein Wort mehr davon, dass er sich be
droht gefühlt hatte. Er habe auch von sich
aus erklärt, nicht über die Grenze gehen zu
wollen.
Die österreichischen Finanzer zeigten of
fensichtlich keine Lust an einem Prozess und
gaben sich mit der Feststellung zufrieden,
dass der Grenzverlauf nicht leicht erkenn
bar sei. Damit konnte ihnen kein offensicht
liches Dienstvergehen vorgeworfen werden.
Das Desinteresse in der Schweiz
Das Landgericht erkundigte sich sowohl
beim Kreisamt in Maienfeld wie auch bei
der Direktion des III. schweizerischen Zoll
gebiets in Chur, ob der Vorfall schweize-
rischerseits untersucht worden sei. Sollte
dies der Fall sein, bat es um die entspre
chenden Protokolle. Doch beide Behörden
zeigten keinerlei Interesse an der Grenzver
letzung. Die Direktion des III. schweizeri
schen Zollgebiets erwiderte, sie habe bloss
an ihre Oberbehörde Anzeige über die Ab
gabe der Waffen gemacht. Diese habe dann
die Rückgabe an die k.k. Finanzbezirks
direktion verfügt. Damit war die Sache aus
Schweizer Sicht erledigt. Tatsächlich war
die Rückgabe der Waffen bereits erfolgt.
Die Einstellung des Verfahrens
Nachdem die Anweisungen des Appellations
gerichts ausgeführt waren, stellte Landrich
ter Carl Blum am 17. April 1907 an das
fürstlich liechtensteinische Appellations
gericht in Wien erneut den Antrag, das Ver
fahren einzustellen. Begründet wurde dieser
Antrag vor allem damit, dass Rudolf Meyr-
hofer «bei seiner irrtümlichen Dienstver
richtung auf schweizerischem Gebiet die
Eigenschaft einer obrigkeitlichen Person
im Sinne des § 68 StGB» nicht zukam.
Diesmal folgte das Appellationsgericht der
Argumentation des Landrichters. In seinem
Beschluss vom 10. Juni 1907 hielt es fest,
dass sich Meyrhofer in der Schweiz befun
den und deshalb als Privatperson gehandelt
habe. Den Eigentümern der Ware müsse
daher zugestanden werden, sich gegen
einen nicht gesetzmässigen Eingriff in ihre
Rechte zu verteidigen - gegebenenfalls
sogar mit Notwehr. Stehe dies fest, sei auch
eine Hilfeleistung der übrigen Beschuldig
ten, die selber nicht Eigentümer der Ware
waren, keine strafbare Handlung. Das Ver
fahren gegen Albrecht Wolhnger und «Con-
sorten» wurde daher eingestellt. So waren
zum Schluss nur noch diverse Spesen zu
bezahlen, auf welche die österreichischen
Finanzer für ihre Aufwendungen Anspruch
hatten. Dafür musste die Landeskasse auf-
kommen.