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Lieblich zur Sommerszeit
auf hoher Alpen weid
schwebt Himmelsruh,
wo frei die Gemse springt,
kühn sich der Adler schwingt,
der Senn das Ave singt
der Heimat zu.
Von grünen Felsenhöhn
freundlich ist es zu sehn
mit einem Blick:
wie des Rheins Silberband
säumet das schöne Land,
ein kleines Vaterland,
voll stillem Glück.
Hoch lebe Liechtenstein,
blühend am deutschen Rhein
glücklich und treu!
Hoch leb’ der Fürst vom Land,
hoch unser Vaterland,
durch Bruderliebe Band
vereint und frei!
Dieser Text zeigt, dass sich Jauch eingehend
mit der Geschichte Liechtensteins befasst
hat. Bemerkenswert ist auch die Nennung
des «Sennen-Ave» in der dritten Strophe. Es
ist die erste schriftliche Erwähnung dieses
sehr alten Brauchs und gleichzeitig ein
Hinweis für dessen hohe Wertschätzung.
Während seines Aufenthalts in London
hatte Jauch die im Jahr 1745 erstmals auf
geführte Hymne «God save the King» ken
nengelernt. Diese galt zu jener Zeit als der
Inbegriff einer Nationalhymne. Die Melo
die hatte sich inzwischen über ganz Europa
verbreitet und wurde in über dreissig Län
dern mit jeweils eigenen Texten als Natio
nalhymne verwendet. Es war für Jauch da
her naheliegend, einen Text zu schreiben,
der rhythmisch und im feierlichen Charak
ter auf die englische Melodie passte.
Jauch hatte zeitlebens mit Deutschen zu
sammengearbeitet, und da Liechtenstein
1806 Mitglied des von Napoleon gegründe
ten Rheinbundes geworden war und nach
dessen Auflösung dem 1815 auf dem Wie
ner Kongress ins Leben gerufenen Deut
schen Bund angehörte, hatten für ihn die
Formulierungen «am Deutschen Rhein»
oder «auf Deutschlands Wacht» nichts
Nationalistisches an sich.
Das einzige Zeugnis zur Annahme, dass der
Text der liechtensteinischen Volkshymne
mit grösster Wahrscheinlichkeit von Jakob
Josef Jauch stammt, war bis vor einigen
Jahren eine Stelle in einem Brief, den er am
11. Februar 1858 (siehe dazu auch S. 34f.)
aus Palermo an seinen Vertrauensmann
Anton Kaufmann in Balzers geschrieben
hat. Es handelt sich um die erstmalige
Nennung des Anfangstextes:
Dann meine gute Hatfe, auf der ich fromme
Lieder spiele und singe. Als ich bei der
Ankunft des letzten Briefes von Balzers
«Oberst am Deutschen Rhein» zu singen an
fing, versagte mir die Stimme unter Thränen
der Wehmuth über das arme Völkchen von
Liechtenstein und musste mehrere Male
frisch ansetzen.
Im Landesarchiv und im Fürstlichen Archiv
in Wien fand ich bei meinen Recherchen
einen Briefwechsel, der Jakob Josef Jauch
eindeutig als Autor bestätigt. In einem
Schreiben vom 14. Mai 1889 an die Hof
kanzlei in Wien beantwortete Landesverwe
ser In der Maur eine Nachfrage nach der
liechtensteinischen Landeshymne wie folgt:
Hochwohllöbliche Hofkanzlei!
Über die gestellte Anfrage beehre ich mich
mitzuteilen, dass eine allgemein anerkannte
und bei offiziellen Ceremonien vorgetragene
Hymne von Liechtenstein nicht existiert. Von
privater Seite ist einige Male versucht wor
den, eine solche Hymne einzuführen. So hat
Anfangs der 50er Jahre ein in Balzers wohn
haft gewesener Priester Jauch, der Erbauer
des Schlosses Gutenberg, eine Hymne ge
dichtet, welche nach der Melodie «Heil dir im
Singerkranz [!]» gesungen werden sollte und
mit den Worten begann «Oberst am
Deutschen Rhein, da lieget Liechtenstein».
Diese Hymne ist seither verschollen und
auch in der hiesigen Registratur findet sich
ein Akt über den fraglichen Gegenstand
nicht.
Vaduz, am 14. Mai 1889
In der Maur
Am 29. September 1895 wurde anlässlich
der Eröffnung der Landesausstellung in Va
duz die Hymne aufgeführt. Das «Liechten
steiner Volksblatt» hielt dazu in seinem