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Offensichtlich fühlte ich mich durch die
Begleitung des Mädchens doch geschmei
chelt, da ich sofort ihr Fahrrad auf den
Wagen lud und im nahen Forst einen geeig
neten Prügel schlug, mit welchem mein
Velo zusätzlich gebremst werden konnte.
Nach sachgerechter Montage dieses Prü
gels an mein Velo fuhr ich mit Ottilia los
und brachte sie heil nach Sargans.
Zuhause wurde sie bei uns verköstigt, wo
nach ihr mein Vater ein Fahrrad und einen
Korb mit Obst und Pfirsichen aus unserem
Garten mitgab.
Es war das erste Mal, dass ich mit einem
Mädchen nach Flause kam, und ich wurde
daher von meinen älteren Schwestern auch
entsprechend geneckt, bis mein Bad bereit
gestellt war, worin ich mich wie noch nie
richtig wohl fühlte.
Mein Vater wollte dann bald wissen, wie die
Lage und der Arbeitsvorgang auf der Alp
Tüls seien, da er die zweite Woche noch mit
vier weiteren Leuten auf Tüls arbeiten wollte.
Er war sichtlich zufrieden mit den Leistun
gen der ersten Arbeitswoche, umso mehr
ich ihm meine Tätigkeit als Hilfsmineur
schilderte. Seine Meinung über den «Stra
tegen» Tonetti war bereits gebildet, da er
diesen seit Jahren kannte. Sie endete mit
dem Hinweis, dass dieser Mann nur dann
rentiere, wenn für ihn eine eigene Arbeit
zur Verfügung stehe, da er nur mit wenigen
Leuten arbeiten könne.
Ich machte mir später Gedanken über die
sen Mann als Mensch. Ein Mensch, der die
doppelte manuelle, messbare Arbeit von
zwei anderen leisten konnte, musste ein
besonderer Mensch sein oder mindestens
irgendwie anders sein, wovon ich vielleicht
nichts verstand. Es schien mir aber eine
Aufgabe zu sein, diesem Menschen das nö
tige Verständnis entgegenzubringen... Diese
Gelegenheit erinnerte mich an einen ein
mal gelesenen Spruch: Bevor man einen
anderen Menschen verdammt, danke man
dem Himmel, der uns, mit unserem ehrli
chen Gesicht, nicht an den Anfang so tragi
scher Umstände gestellt hat.
Ich verbrachte in diesem Sinn mein Wo
chenende, glücklich darüber, wieder viel
Neues erlebt zu haben, und mit der Überzeu
gung, den alten Tonetti auf der Alp zumin
dest teilweise glücklich gemacht zu haben.
Alp Tüls - Zweite Arbeitswoche -
Herbst 1927
Die Herstellung von Grubenkalk musste auf
der Alp Tüls im Herbst 1927 mit damals
sehr primitiven Mitteln geschehen. Dieser
Kalk wurde dann im Sommer 1928 verar
beitet. Es wurde das Mauerwerk des Scher
men neu gebaut. Der Neubau der Senn
hütte auf derselben Alp erfolgte erst 1938
durch unsere Firma.
Während es bei einer Veranstaltung üblich
ist, den gemütlichen Teil erst nach dem
Konzert abzuhalten, erfolgte die eigentliche
«Aufführung» auf der Alp Tüls erst in der
zweiten Woche, während die erste Woche
eher mit dem gemütlichen Teil verglichen
werden konnte.
Am Sonntagvormittag kam die Frau unse
res Arbeiters Tonetti zu Fuss von Balzers
nach Sargans, eine zierliche, angeschlagene
Frau von ca. 50 Jahren, um Vorschuss zu
holen. Da ihre Kinder während der Woche
bei Bauern verdingt waren, wollte sie diese
am Sonntag bei sich zuhause haben. Somit
brauchte sie Geld, um Esswaren zu kau
fen... Während sie ihren Mann nach allen
Kanten rühmte, der erst durch den Ersten
Weltkrieg und den Militärdienst ruiniert
worden sei, erwähnte sie, sie müsse ihr
Geld für die Familie stets bei seinen Arbeit
gebern holen. So hat diese Frau den Fuss-
marsch von Balzers nach Sargans und zu
rück auf sich genommen, um 10 Franken
zu holen, welche ihr mein Vater sofort gab.
Sonntagnachmittags fuhr mein Vater mit
vier seiner Leute auf unserem Bergwägeli,
gezogen von unserem Pferd, in Richtung
Alp Tüls, um noch vor abends auf der Alp
einzutreffen... Erst nach viel Tamtam ge
lang es meinem Vater, seine Gruppe, inklu
sive Tonetti, noch am selben Abend heil auf
die Alp zu bringen, während der Fuhrmann
die Aufgabe hatte, mit Ross und Wagen
wieder nach Sargans zu fahren, wo dieser
gegen Mitternacht ... eintraf.
Meine Aufgabe bestand darin, an diesem
Montagmorgen zuhause auf den Kalkbren
ner der Kalkfabrik Netstal zu warten und
ihn dann auf die Alp zu begleiten. Schon
vor 7 Uhr kam ein Motorrad Marke Indian
bei uns an. Während dem Fahrer in unserer